Dienstag, 1. Mai 2012

Ein Göttinger Studentenduell von 1766 mit tödlichem Ausgang


Der Historiker Otto Deneke (1875-1956) rekonstruiert in einer 1934 entstandenen Schrift das Duell zwischen den Studenten Techentin und Carmon: "Ein Göttinger Studenten-Duell von 1766. [Den Studenten-Historikern zur Oster-Tagung 1934 in Tübingen gewidm.]. Verlegt in Göttingen, Weender Str. 3., 1934. Aus: Göttinger Zeitung, Beil. Alt-Göttingen."

Der Text

Während der ersten siebzig Jahre der Universität Göttingen ist es nur einmal vorgekommen, daß ein Student im Zweikampf getötet wurde, im Jahr 1766. Damit stand Göttingen in bemerkenswertem Gegensatz zu Jena. Jena war in alten Zeiten eine rechte Raufer-Universität, in der kein Jahr verging, ohne daß wenigstens ein Student im Duell oder sonstigen Rencontre sein Leben lassen musste. „Wer von Jena kommt ungeschlagen, der kann von Glücke sagen,“ ist ein Stammbuchvers des 18. Jahrhunderts. In Göttingen aber rühmten sie sich sehr laut, daß während des ganzen 18. Jahrhunderts von mehr als 18.000 Studenten nur ein einziger im Duell geblieben sei. (1)
Anlaß und Vorgeschichte dieses Göttinger Zweikampfes mit tödlichem Ausgang sind recht alltäglich, ja trivial. Aber um seiner Nachgeschichte willen lohnt es sich vielleicht, das Ganze nach den Quellen zu erzählen.
Am 21. April 1766 machten fünf Göttinger Studenten einen Spazierritt nach Sattenhausen, einem Dorfe etwa 12 Klm. von Göttingen. Solches „zu Dorfe steigen“ oder „dorfsatim gehen“ gehörte damals zu den beliebtesten Zerstreuungen der Studenten. Was die jungen Leute gerade nach Sattenhausen zog, sieht man nicht. Vielleicht war es nur die Tatsache, daß Sattenhausen nicht hannoversch, sondern hessisch war. Es war Hessen-Rheinfels-Rothenburgischer Besitz, für die Göttinger also Ausland, in das der Arm der Göttinger akademischen Behörde nicht reichte.
In Sattenhausen hatten die Studenten kräftig gezecht. Auf dem Rückweg fällt einer von ihnen, namens Lorenz Christian Carmon, ein Mediziner aus Parchim, aus Trunkenheit vom Pferde; das Pferd läuft davon. Zwei andere von der Gesellschaft, darunter Joh. Heinrich Techentin, Jurist aus Lübeck, reiten dem Pferde nach und fangen es beim Eichenkrug. Sie warten hier im Kruge auf Carmon, der dann auch zu Fuß eintrifft. Er ist sehr unwillig und schimpft gewaltig, insbesondere auf Techentin, von dem er erwartet hatte, daß er ihn mit dem Pferde wider von der Unfallstelle abhole. Es kommt beinahe zu einer Schlägerei. Am nächsten Morgen wird eine gütliche Beilegung versucht. Die beiden Gegner haben sich schon ziemlich wieder vertragen, aber die mecklenburgischen Landsleute Carmons wollen es nicht leiden, daß er sich mit Techentin vergleiche. Und zu Techentin kommt der stud. Kölling und sagt ihm, er müsse sich dennoch schlagen; in Halle würde einer, der sich nicht schlagen wolle, jämmerlich verprügelt. Am 22. April 1766 nach 1 Uhr mittags kommen also die beiden Gegner auf der Stube eines Dritten, des Studiosus Baumgarten, zusammen – in dem Hause des Hofraths Joh. David Michaels. (2)  Es ist das heute noch ziemlich unverändert stehende geräumige Haus gegenüber dem Eingang zur Universitätsbibliothek, das im Jahre 1737 als Londonschenke erbaut worden war, während des siebenjährigen Krieges aber als französisches Militärlazarett gedient hatte. Michaelis hatte es 1764 gekauft. Den Hauptteil nach der Prinzenstraße zu bewohnte er selbst. Davon getrennt war der Seitenflügel, der mit einer 13-Fenster-Front auf die Allee blickt und auch einen eigenen Eingang mit Treppe hatte, der jetzt nicht mehr vorhanden ist. Diesen Seitenflügel vermietete Michaelis an Studenten, von denen viele in den beiden Stockwerken Platz hatten. Einer von diesen war Baumgarten und auf dessen Zimmer im ersten Stock an der nördlichen Ecke fand das Duell statt. Als Sekundanten traten die Studenten Günandt und Kölling auf, anwesend waren noch einige andere Studenten. Schon kurz nach Beginn erhielt Techentin von der dreieckigen Hohlklinge des Gegners einen Stich in die rechte Brust, durch die Lunge hindurch in das Pericardium (Herzbeutel), sodaß er sofort umfiel. Man legte ihn aufs Bet; der eiligst herbeigerifene Chirurg Bodenstein fand ihn schon tot. Der siegreiche unglückliche Gegner setzte sich, wie immer in solchen Fällen, sofort auf flüchtigen Fuß, mit ihm die beiden Sekundanten und zwei Zuschauer. Als die akademische Behörde unmittelbar danach durch den Chirurgus von dem Vorfall erfuhr, hatten alle Beteiligten Göttingen schon verlassen. Die Behörde schickte sogleich reitende Boten an alle Aemter und Städte der Umgegend, um der Flüchtigen habhaft zu werden. Man hat aber keinen gefast. Später hörte man die merkwürdige Nachricht, daß sie sich in den eichsfeldischen Klöstern verborgen gehalten hätten.
Wenn man den Täter Carmon gefaßt hätte, wäre es ihm sehr schlimm ergangen, wie man sogleich sehen wird. Selbst den unglücklichen Toten behandelte man noch mit befremdlicher Grausamkeit. Man gönnte ihm nicht ein ordentliches Begräbnis; er wurde am 23. April nachts in einem platten Sarge außerhalb der Kirchhofsmauer eingegraben. Sein Vater, ein Konditor in Lübeck, wurde von dem Todesfalle in Kenntnis gesetzt, aber auf sein Anerbieten, er wolle die Kosten eines anständigen christlichen Begräbnisses tragen, erhielt er keine Antwort. Als Lichtenberg (3), der damals Student in Göttingen war, fünfundzwanzig Jahre später in einer melancholischen Anwandlung sich die Namen seiner Freunde und Bekannten zusammenstellte, die auf dem Friedhofe nahe bei seinem Gartenhause an der Weender Landstraße begraben lagen, notierte er darunter auch: „Der erstochene Techentin außerhalb der Mauer.“
Die akademische Behörde wird durch diesen beklagenswerten, in Göttingen unerhörten Vorfall peinlich betroffen. Der nach wenigen Tagen an die Hannoverschen Geheimräte erstattete Bericht zeigt, daß man auf harte Vorwürfe gefaßt war und diesen zuvorzukommen suchte. „Der Geist einer eingebildeten Ehre, als wenn alle Schimpfworte durch den Degen ausgemacht und nicht ausgeklagt werden müßten, ist auf Universitäten aller angewandten Bemühung ohngeachtet zu vertilgen nicht möglich gewesen.“ Man glaubt einen Seufzer der Erleichterung zu hören, wenn man auf dem Konzept dieses Berichtes die Notiz des alten Syndicus Riccius findet: Auf diesen Bericht ist keine Antwort erfolgt.
Die behördliche Behandlung des Falles bestimmte sich durch das Duell-Edikt vom 18. Juni 1735. Darin lautet Artikel 14: „Wenn ein Duell geschieht und einer der Duellanten dabei entleibt wird, so soll der Täter ohne Unterschied seines Standes oder Wesens und ohne alle Begnadigung mit dem Schwerte vom Leben zum Tode gebracht werden. Wenn man der Person des Mörders nicht habhaft werden kann, ist sein Bildnis mit einer Beschreibung der Beschaffenheit seines Deliktes an den Galgen zu henken. Diese Bestrafung in effigie (4) soll aber die gesetzte Todesstrafe nicht aufheben ..“
Die Untersuchung gegen die flüchtigen Täter dauerte den ganzen Sommer hindurch, ohne daß aber wichtige  neue Erkenntnisse gewonnen wären. Erst im November 1766 kam die Universitäts-Deputation (das akademische Gericht), bestehend aus Kästner (Prorector), Förtsch, Walch, Meister, Ahrer, Schröder, Becmann, zu dem Urteil: Da der Stud. Carmon sich wegen der von ihm im Duell begangenen Entleibung des Stud. Techentin auf flüchtigen Fuß gesetzt hat, so ist nach Vorschrift des 14. Artikels des Duell-Ediktes sein Bildnis mit einer Beschreibung der Beschaffenheit seines Verbrechens an den Galgen zu henken. Von Rechts wegen.
Ob der Deputation ganz wohl dabei gewesen ist, als sie in gehorsamer Anwendung des alten drakonischen Duell-Ediktes auf die Strafe des Aufhängens in effigie erkannte, darf bezweifelt werden. Die Geheimräte in Hannover aber bestätigten das vorgeschlagene Urteil in vollem Umfange, insbesondere, daß das Bildnis des Carmon zum Abscheu und Exempel an den Galgen gehenkt werde. Jedoch solle, nachdem es vier Wochen gehangen, darüber weiter angefragt werden. Nur bringen die Geheimräte ein formelles Bedenken zur Sprache: Es ist doch wohl die öffentliche Ladung der Beschuldigten in dreien Territoriis gehörig angeschlagen gewesen, damit gegen die Legalität des Verfahrens nichts einzuwenden ist.
Die Deputation benutzt diese sich bietende Möglichkeit des Aufschubs der Execution offenbar sehr gern und berichtet nach Hannover, daß eine solche Edictal-Citation (5) in dreien Territoriis nicht stattgefunden habe. Das werde zwar bei anderen Delinquenten observanzmäßig so gehalten in Deutschland, aber nicht an den Universitäten; hier begnüge man sich mit der Ladung am Schwarzen Brett, um die Angehörigen der Sudenten nicht unnötig in Besorgnis zu bringen. Erfahrungsgemäß erhielten die Adressaten doch Nachricht. In diesem Falle haben die Entwichenen sogar in den eichsfeldischen Klöstern, wo sie isch aufgehalten, davon Nachricht erhalten. Man könne diese Edictal-Citation übrigens noch nachholen, nur müsse dann die Execution des Carmon in effigie aufgeschoben werden.
Zugleich wirft aber die Deputation die Frage auf, in welcher Weise denn diese Execution vollzogen werden solle? Das aufzuhängende Bild wird die Universität malen lassen. Aber das Aufhenken muß doch wohl der hiesige Gerichtsschulze besorgen. Ferner sei zu erwägen, zu welcher Tageszeit die Execution zu unternehmen sei. Geschieht es am hellen tage und mit Vorbewußt der Leute, so gibt es einen großen Auflauf, welcher zu allerhand Suiten Anlaß geben könnte. Man erbitte sich also Verhaltungsbefehle, ratione modi et temporis, für Art und Zeit der Execution.
Die Räte antworteten, daß man es bei der nicht geschehenen Edictal-Citation bewenden lassen wolle, fügen aber etwas ungeduldig hinzu, daß diese Sache nun lange genug gedauert habe und nicht weiter in die Länge gezogen (protrahiert) werden dürfe, sondern die in effigie zu vollstreckende Execution sei unausbleiblich innerhalb acht Tagen zu vollziehen. Damit die Sache nun wirklich in Gang kommt, ergeht gleichzeitig eine Anweisung an den Gerichtsschulzen, er solle wegen der Execution mit der akademischen Behörde das Nötige vereinbaren (concertieren), insbesondere ob und welchergestalt auf dem Markte ein besonderer mit einem Querholze, um das Bildnis daran zu hängen, zu versehender Pfahl aufzurichten nötig sei. Ein besonderes Augenmerk ist darauf zu richten, daß alle Unordnung und Unruhe vermieden und abgewendet werden möge (14. Dezember 1766).
Am gleichen Tage aber geht ein zweites Resript an die Universität, aus dem man ersieht, daß den Räten in Hannover nun doch allmählich Bedenken erwachsen. Es waren nämlich im Sommer 1766 erhebliche Unruhen unter den Studenten in Göttingen vorgefallen, die nur mit Mühe beigelegt werden konnten. „Weilen uns aber die Besorgnis ständig bevorschwebet, daß unter den Studiosis noch eine Fermentation übrig sei, welche bei einer solchen Gelegenheit zu neuen Unruhen ausbrechen möchte, so werdet Ihr mit reifem Vorbedacht überlegen, ob es nicht besser sei, den Actum des wirklichen Aufhängens des Bildnisses nicht bei Tage, sondern in der Stille, bei später Nacht oder lange vor Tage vor sich gehen zu lassen, und hierzu die Nacht vorher, ehe die Execution hätte vor sich gehen sollen, zu wählen, als wodurch viele Unlust und besorgliche Folgen können vermieden werden und gleichwohl dem rechtlichen Spruche ein Genüge geschieht. In diesem Falle ist das Vorgehen aufs Aeußerste zu secretieren, damit unter den Studiosis nichts davon expiriren möge.“
Am 16. Dezember 1766 fand dann die gemeinsame Beratung der Deputation mit dem Gerichtsschulzen, dem obersten königlich-kurfürstlichen Gerichtsbeamten zu Göttingen, statt. Die Universität wird das Portrait des Carmon malen lassen, mit der Aufschrift: „Bildnis des Stud. Carmon, der im Duell den 22. April 1766 den Techentin entleibet und wegen der ergriffenen Flucht jetzo bestraft wird, mit Vorbehalt einer Lebensstrafe.“ Das Bild, also den armen Sünder, wird die Universität dann dem Herrn Gerichtsschulzen zum Vollzug der Execution übergeben. Nun aber ergibt sich die schwierige Frage: Was für ein Ort ist für Execution zu wählen? Wollte man einen neuen Galgen aufführen, so müßten die Zünfte dabei konkurrieren. (Bei Errichtung eines neuen Galgens müssen nach altem Brauch alle Zünfte wenigstens symbolisch mitwirken. Indem sie sich so mit den Zimmerleuten, die den Galgen bauen, solidarisch erklären, bleibe diese vor der Unehrlichkeit bewahrt, die sonst mit der Handtierung am Galgen verbunden ist.) Da die Stadt selbst nicht die oberste Gerichtsbarkeit hat, so würde die Stadt und der Magistrat auch nicht erlauben, daß in der Stadt selbst ein neuer Galgen errichtet würde. Der Soldaten-Galgen könne auch nicht genommen werden, denn der Herr General (Stadtkommandant) würde solchen ohne Erlaubnis der Kriegskanzlei nicht verstatten wollen oder können. Es bleibt also nur der Leinebergische Galgen. Bei diesem ist aber der obenliegende Hängebalken durch die Länge der Zeit faul geworden. Doch will der Gerichtsschulze die Reparatur von sich aus besorgen. Dienstag, den 23. Dezember 1766, am letzten Tage der gesetzten Frist von einer Woche, lange vor Tage, also um fünf Uhr, soll die Execution in der Stille vorgenommen werden. Der Gerichtsschulze wird am Morgen der Execution im Concilienhause durch die Universität requiriert werden, die Execution an dem Bilde zu vollstrecken.
Damit scheint nun alles in Ordnung zu sein. Dennoch setzt die Diskussion von neuem ein, anscheinend auf Betreiben einer überstimmten Minderheit in der Deputation. Man weist darauf hin, daß das Regierungsrescript nicht von einem Galgen rede, sondern von einem Pfahl auf dem Marktplatze, an den das Bild gehängt werden sollte. Das Duell-Edikt rede aber nur von dem Galgen und habe also an nichts anderes denken können als an den Diebes-Galgen, denn für die Studenten sei doch kein besonderer Galgen vorhanden. In Leipzig (der Leipziger Kästner kramt gern Erinnerungen an Leipzig aus) habe man wirklich einmal ein solches Bild an den ordentlichen Galgen gehenkt, der Leipziger Galgen habe aber auch drei Querhölzer, eines für die Universität, eines für das Amt und eines für die Stadt. Kästner schlägt also vor, daß man wegen dieser Zweifel noch einmal bei den Räten in Hannover Rückfrage halte, obwohl die gesetzte Frist von acht Tagen dann nicht innegehalten werden könne. Aber die Mehrheit der Deputation beschließt, daß die Execution ihren Lauf nehmen müsse, wobei das Nähere dem Gerichtsschulzen überlassen bleibe, der ja die ganze Verantwortung habe. Nun scheint also die Bahn völlig geebnet zu sein.
Aber es entsteht eine neue Schwierigkeit. Man fragt: wie wird denn der auf dem Bildnis anzubringende Name des Delinquenten richtig geschrieben, Carmon oder Carmohn? Ayrer behauptet ohne, der Syndicus Riccius mit h. Darüber soll die Matrikel eingesehen werden. Aus ihr ergibt sich überraschenderweise, daß er doch mit einem h geschrieben wird. Und dann taucht ganz neu ein weiteres nicht so einfach zu lösendes Problem auf: Soll das Bildnis mit einer eisernen Kette oder mit einem Strick an den Galgen gehängt werden? Diese Frage ist in der letzten Deputations-Sitzung vergessen worden und wird von dem Syndicus Riccius noch Nachträglich zur Erörterung gestellt. Auch müssen an dem Bilde oben zwei Krampen angebracht werden, durch die die Kette gezogen werden kann. Bei Anwendung eines Stricks sind allerdings keine Krampen nötig, da die Löcher für den Strick leicht gebohrt werden können. Riccius erläutert dieses bisher nicht erkannte Problem durch eine lichtvolle Handzeichnung. Es wird darüber nun im Umlauf votiert. Kästner meint, es sei eine Kette nötig, der Strick verfaule sogleich. Das Eisenwerk könne wohl bei dem Schmiede bestellt werden, ohne daß man sage, wozu. Dem stimmt auch der Theologe Förtsch zu. Aber die Andern meinen, es müsse erst der Scharfrichter befragt werden, wie er es verlange. Diese Eröterungen spielen am 19. Dezember 1766.
Am 20. Dezember kam dann ganz unerwartet in einem neuen Schreiben der Räte aus Hannover die Lösung und Rettung aus aller Verlegenheit. Die Räte schrieben, sie hätten gnädigst resolviert, die erkannte Aufhängung des Bildnisses an den Galgen in eine Relegationem perpetuam cum infamia (mit Vorbehalt der im Betretungsfalle annoch zu vollstreckenden Todesstrafe) (6) zu verwandeln.
Also ein völliger Umschwung der Meinung bei den Räten in Hannover. Aus den Akten sind die Gründe dafür nicht zu ersehen. Wir erfahren sie aber aus einer anderen Quelle: von Joh. David Michaelis in seiner Selbstbiographie. Er erzählt, daß er die Ausführung dieses Hängeaktes in effigie verhindert habe, der gerade an einem Orte stattfinden sollte, „wo der Weg nach einem sehr besuchten Wirtshause vorbeiging und die Besuchenden, vom schlechten Weine berauscht, zurückkamen (Crone?) Die natürlichen Folgen davon würden so übel gewesen sein, daß ich mich für verpflichtet hielt, die Ausführung zu verhindern. Ich stellte dieses also vor, aber nicht Münchhausen (7) selbst, sondern einem meiner Freunde in Hannover, der sein ganzes Vertrauen hatte, um es ihm zu entdecken. Mit der ersten Post wurde sogleich die Vollziehung der Sache durch ein Resript verboten.“ Das erzählt Michaelis hier freilich nicht, daß er an einer möglichst geräuschlosen Erledigung der Sache persönlich interessiert war, weil das unselige Duell in seinem Hause stattgefunden hatte. Trotzdem bleibt ihm der Ruhm, daß er weitblickend, verständig und mutiger als seine Kollegen den abgeschmackten Hängeakt verhindert hat.
Merklich erleichtert beschließt die Deputation sogleich nach Eingang des Schreibens vom 20. Dezember, daß die Strafe des Aufhängens wegfalle. Der Gerichtsschulze wird, um ihm solches mitzuteilen, herbeigerufen. Diese konnte sich dann allerdings nicht Umgang nehmen zu bemerken, daß die Reparatur des Galgens bereits mit einem Kostenaufwand von 40 Talern bewirkt worden sei. Die Deputation konnte ihm erwidern, daß auch sie schon das aufzuhängende Bild auf ein Brett zu beiden Seiten fertig habe malen lassen, bis auf die Unterschrift des Namens Carmohn.
Danach kommt das gerichtliche Verfahren dann bald zu Ende.
Das Duell hatte natürlich großes Aufsehen erregt; durch Jahrzehnte hin blieb die Erinnerung daran wach, zumal es der einzige derartige Fall blieb – bis 1808, dem Jahre, in dem sich die ersten Landsmannschaften neuer Art in Göttingen konstituierten. (In dem dann folgenden Jahrzehnt bis 1818 stieg das Duellwesen auch in Göttingen zu nicht gekannter Höhe. In diesem Zeitraum fallen etwa zehn Studenten-Zweikämpfe mit tödlichem Ausgang. Von 1820 bis 1837 geschah dann wieder nur ein einziger Fall.)
Die Teilnahme der Zeitgenossen an dem Schicksal des toten Techentin fand ihren Ausdruck auch poetisch in einem langen Gedichte, daß als eine Art Fliegendes Blatt gedruckt und vertrieben wurde: An den Vater des jüngst zu Göttingen erstochenen Jünglings, von einem Bürger der Akademie. 1766; 14 S., Kl.-Oktav. (8)
Zwei Aeßerungen von Göttinger Professoren, die sich auf das Duell Techentin-Carmon beziehen, sind noch bemerkenswert. Was Lichtenberg im Jahre 1769, offenbar an den Fall Techentin denkend, in seinem Notizen-Buch über Duell vermerkt, steht sehr weit ab von der studentischen Auffassung, damals und heute, über den Zusammenhang von Ehre und Zweikampf. Es erklärt sich zur Genüge aus der bekannten Körperlichkeit Lichtenbergs, die ihn für eine kämpferische Betätigung ausschließlich auf geistige Waffen verwies. Das er diese vortrefflich zu führen verstand, hat der kleine bucklige Professor in manchen Waffengängen bewiesen, an denen wir noch heute unsere Freude haben. Ueber studentische Duelle schreibt er u.a.: „Ein Göttingisches Duell erfordert die nämliche Herzhafftigkeit, die man nötig hat, um eine bowl of punch auszutrinken. Fünfzig Göttinger Studenten haben ihren Tod schon in der Punsch-bowle gefunden und nur ein einziger im Duelle. Kein Wunder also, wenn so viele das Mittel des Duells ergreifen, eine vermeintlich verlorene Ehre wiederherzustellen. Ein Versuch, die Grönländischen satyrischen Duelle einzuführen, könnte ein gutes Mittel sein, seine Ehre nicht zu bald für verloren zu halten.“ Die Grönländer fechten nämlich nach damaligen Reiseberichten ihre Streitigkeiten dadurch aus, daß sie gegenseitig satirische Gedichte auf einander absingen, wobei der Zuhörerkreis zu entscheiden hat, wer sich für besiegt halten muß. (Hierauf bezieht sich auch der Titel von Jean Pauls Erstlingswerk „Grönländische Prozesse“ von 1783.)
Eine etwas andere, mehr moralisierende, aber ebenso wenig Studentenbrauch-freundliche Note klingt aus den Worten des Professors Pütter, der 1766 an der akademischen Untersuchung gegen Carmon und Genossen beteiligt war; er wurde aber durch den Vorgang so erschüttert, daß er mit einem kalten Fieber befallen wurde. Noch nach dreißig Jahren, in seiner Selbstbiographie von 1798, erzählt er von diesem tödlichen Studentenduell, dem einzigen, das er in den fünfzig Jahren seiner Professur in Göttingen erlebt hatte. Dabei sagt er: „Der Täter soll nicht lange hernach in einer Art von Verzweiflung gestorben sein. Er hieß Carmon. Der Entleibte war aus Lübeck, eines Zuckerbäckers Sohn, namens Techentin. Was mag denen, die an der Sache teilgehabt, seitdem ihr Gewissen vorgehalten haben?“
Eine Frage, die dem Studenten-Historiker von selbst aufdrängt, mag hier noch angeschlossen sein: ob nämlich in diese Studenten-Duell-Geschichte nichts vom studentischen Ordenswesen hineinspielt. Wenn die Gegner der Studenten-Orden, vor allem also die Universitätsbehörden, immer wieder behaupteten, die Orden seien schuld an der Duellwut, so scheint unser Tatbestand das zu bestätigen, sofern man nur annimmt, daß hinter den „Mecklenburgischen Landsleuten“, die den Carmon von Versöhnung abhalten, und dem Commilitonen Kölling, der dem Techentin mit dem vielsagenden Hinweis auf Hallischen Burschenbrauch die Bedenklichkeiten austreibt, - daß hinter diesen Scharfmachern ein Studenten-Orden stand. Das akademische Gericht hat in der Untersuchung gefragt, ob Carmon in einem Orden sei. Die Zeugen wollen davon nichts wissen. Die Frage lag um so näher, als in denselben Wochen, als das Verfahren gegen Carmon lief, die große umfassende Untersuchung gegen die Studenten-Orden spielte, deren Ergebnisse durch G. v. Selle in dem aufschlussreichen Buche von 1927 (Ein akademischer Orden in Göttingen um 1770) dargestellt sind. Danach müssen wir sagen, daß das akademische Gericht, indem es nach der ausweichenden Antwort der Zeugen die Ordensfrage nicht weiter verfolgte, recht leichtgläubig oder wenig scharfsinnig war oder – sein wollte. Aus den bei v. Selle mitgeteilten Untersuchungsergebnissen kann man unschwer die Überzeugung gewinnen, daß das Duell Techentin-Carmon aus dem Schoße des Studenten-Ordens L'Innocence erwachsen ist, dem Carmon vermutlich angehörte. Das Ordenszeichen war L'J, dazu drei Punkte im Dreieck; oder auch th'I, denn der Orden war aus England gekommen. In Göttingen hatte er sein Hauptquartier offenbar im Hause Michaelis. Der Hofrat Michaelis war dabei kein Hindernis; er bekümmerte sich um die Vorgänge im Seitenflügel seines Hauses wenig, vermietete ihn sogar am liebsten stockwerkweise in General-Enterprise an einen Studenten, der dann die einzelnen Zimmer an Untermieter weitergab. Im Hause Michaelis wohnte Baumgarten, in dessen Zimmer das Duell stattfand. In eben diesem Zimmer finden Aufnahmen in den Orden statt: der stud. v. Dewiß ist hier durch den stud. v. Uslar in den L'Innocence-Orden rezipiert worden – er erscheint unter den Zeugen in der Duellsache. Zwei Brüder Helm sind in dem Orden, der eine gehört zu den flüchtigen Mitschuldigen in der Duellsache. Bei der am 11. Juni 1766 allen Ordensbrüdern abgenommenen Absagungs-Erklärung erscheinen vom Orden L'Innocence noch acht Mitglieder. Ich glaube, daß außerdem auch die geflüchteten vier oder fünf Studenten dem Orden angehörten. Die Mitglieder waren meist Mecklenburger; zwei waren Göttinger Honoratioren-Söhne: F. C. Willig, der Sohn des Bürgermeisters, später selbst Göttinger Universitäts-Syndicus, und M. C. Friedrichs, der Sohn des reichen Kriegskommissars. Im Mai 1771 finde ich das Zeichen des Ordens L'Innocence zum letzten Male in einem Stammbuche.
Für das Göttinger Studentenleben scheint das Duell Carmon-Techentin dann noch in besonderer Weise bedeutsam geworden zu sein. Der unglückliche Ausgang hat dazu geführt, daß in Göttingen der Stoßdegen als studentische Waffe abgeschafft und der Hieber an seiner Stelle eingeführt wurde. (9) Professor Meiners, der das Göttinger Studentenleben seit 1767 aus eigener Beobachtung kannte, erzählt 1802, dieser traurige Vorfall sei vermutlich der Hauptgrund gewesen, daß man in Göttingen den Stich-Degen verließ und den Hieber zu brauchen anfing. Fabricius berichtet ähnlich (1927, S. 143), der Korbschläger solle in Göttingen zuerst aufgekommen sein und sich von dort aus verbreitet haben. Schon 1781 jedenfalls war nach den Erinnerungen Piter Poels die unter den Göttinger Studenten gebräuchliche Waffe der Hieber, nicht der Stoßdegen. Nach 1790 läßt man auch an anderen Universitäten gerne „Schläger aus Göttingen“ kommen (Fabricius). So darf man zum Schlusse feststellen, daß dieser unglückliche Göttinger Zweikampf Carmon-Techentin von 1766 in einem Punkte doch Gutes bewirkt hat. Er ist die Veranlassung zu einer Verbesserung des studentischen Duellbrauchs geworden und hat der deutschen Studenten-Welt damit zu einem Fortschritt verholfen, ohne den vielleicht noch mancher fidele Bursch dem Stoß-Comment zum Opfer gefallen wäre.


Anmerkungen:

(1) In Göttingen wurden im 18. Jahrhundert nicht wenige Duelle gefochten (vgl. Stefan Brüdermann: Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert. Band 15 von Göttinger Universitätsschriften. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 1990). Dass es dabei nur einen (belegten) Todesfall gegeben hat, ist in der Tat bemerkenswert.

(2) Johann David Michaelis (1717-1791): Orientalist, Theologe und Historiker. Ab 1746 außerordentlicher und ab 1750 ordentlicher Professor in Göttingen. 1764 erwarb Michaelis das Haus, dass auf der Allee direkt gegenüber dem Universitäts- und Kollegiengebäude stand und bis heute den Namen Michaelishaus trägt. Vgl. Allgemeine Deutsche Biographie (Band 21, Duncker & Humblot, 1885, S. 685–690. Julius August Wagenmann) und Neue Deutsche Biographie (Band 17, Duncker & Humblot,  1994, S. 427–429. Von Christoph Bultmann)

(3) Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799): Naturforscher und Schriftsteller. Vgl. Neue Deutsche Biographie, Band 14, S. 449-464. Von Wolfgang Proß und Claus Priesner)

(4) In effigie (lat.): als Bildnis. Eine Strafvollstreckung am Bild war allgemeingebräuchliche Rechtspraxis jener Zeit. Hier: Weil der Täter Carmon flüchtig war, wurde das Urteil als Scheinhinrichtung an dessen Bildnis vollstreckt. Siehe zur Geschichte der Scheinhinrichtungen in Europa diesen Artikel.

(5)  Edictal-Citation: Der Beschuldigte wird durch öffentliche Bekanntmachungen (Ausrufungen oder Anschläge) aufgefordert („citirt“), zu einem festgesetzten Tag vor Gericht zu erscheinen. Vgl. Pierer's Universal-Lexikon, Band 5. Altenburg 1858, S. 477.

(6)  Relegationem perpetuam cum infamia: Die dauerhafte Verbannung („relegationem perpetuam“) wegen einer entehrenden Handlung („cum infamia“). Hier: wegen des Duells. Vgl. Pierer's Universal-Lexikon, Band 14. Altenburg 1862, S. 30-31.

(7) Gerlach Adolph von Münchhausen (1688-1770): Kurfürstlicher Rat. Mitbegründer und erster Kurator der Georg-August-Universität Göttingen. Vgl. Allgemeine Deutsche Biographie (Band 22, Duncker & Humblot, 1885, S. 729–745.  Von Ferdinand Frensdorff)

(8) „An den Vater des jüngst zu Göttingen erstochenen Jünglings, von einem Bürger der Academie, 1766“ (Anonym). [Digitalsat der Staatbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz]

(9) Auch an anderen Universitäten und bereits zu früheren Zeiten wurden Verbote des Duell-Stoßfechtens und des Tragens von Stoßdegen ausgesprochen, z.B. in Marburg die Verbote von 1659, 1670, 1676, 1695.  Auch im 18. Jahrhundert wurden dort immer wieder strenge Edikte für das Tragen und Führen von Waffen erlassen ( vgl. „Zur Geschichte des Fechtens an der Universität Marburg. Von Norbert Nail und Gereon Berschin“ [pdf]) Ein Beispiel für Verstöße gegen geltendes Universitätsgesetz: Nach dem Verbot von 1695 an der Universität Marburg „sollte die Übertretung des Verbots mit 2 Goldgulden und Verlust des Degens bestraft werden, wer aber damit stößt, soll mit 8 Tage Karzer und 10 Rthlr. Strafe büßen, wer einen andern durch den Stoß damit verwundet, soll relegiert oder excludiert werden.“ (ebd. S. 4, zit. n. G. Heer, 1927: 59)

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