Mittwoch, 18. März 2015

"der Marquis de la Vallete meinen Obristen, so balde er nach Paris kommen, gefordert" - Das Duell des Marquis de la Vallette mit dem Grafen von Schönberg

von Jan Schäfer

In seinem Tagebuch dokumentierte der hessische Obrist Caspar von Widmarckter am 5. Juni 1617 ein Duell zwischen dem Marquis de la Vallette und seinem Obristen Graf von Schönberg, von dem er Kenntnis erhalten hatte. Bemerkenswert für die Fechtgeschichte ist die Quelle vor allem deshalb, weil  uns Zeitzeugenberichte aus einem Kontext, der nicht unmittelbar der Rechtspflege zuzuordnen ist (wie z.B. aus Briefen oder, wie im vorliegenden Fall, aus Tagebucheinträgen), über Duelle vor 1800 kaum im deutschsprachigen Raum vorliegen. 

"In Erfahrung bracht, daß unß der Königk neben 5 Regimenten Franzosen und 16 Cornette Pferde in Savoya schicken woll, auch, welcher Maßen der Marquis de la Vallete meinen Obristen, so balde er nach Paris kommen, gefordert. Dieser Duel ist also zugangen, so balde der von Schönbergk deß Abends nach Paris kommen, hatt sich deß Morgenß frie zwischen 3 und 4 Uhr deß Markgrafen Lackeyen einer in seine Cammer geschlichen und ihme im Bett ein schriflich Cartel behändiget, der von Schönberk miht der gleichen gethan, aufge- [fol. 202v] stanen, sich mitt dem Lackeyen in ein Cabinet verfüget, ihn gefraget, mitt waß Gewehr sein Herr seiner warte, der Lackey geantwortet, mitt seiner Seitten Wehre, die er täglich zu tragen pflege, darauf der Graf von Schönberk dem Lackeyen 5 oder 6 Wehre ahn der Wand hangende gezeiget, ob irgent eine darunter, die seines Herrn gleich wehre. Der Lackey eine gezeuget und gesagt, daß dieselbe sich zu seines Herrn wollschicken durfte. Darauf der Graff dem Lackeyen solche von der Wand genommen, ahn die Seitt gehangen, mitt dem Lackeyen munter allein in den Stall gangen und mitt solcher Still, weill eß zu mahl frie geweßen, ein Pferd sattlen laßen und darvon geritten, daß es niemats von seinen Edelleuthen gewahr worden. Biß über ein ein Weill der Stallmeistr seiner Gewinheitt nach in den Stall kommen, nach dem abwesenten Pferd gefraget, und alß ihn die Knecht berichtet, eß habe er, der Graff, gar frie allein mitt einem frembten Lackeyen darvon geritten, ist ihm solcheß schwer gefallen, ein Pferd sattlen laßen und nach fleißiger Nachfrage sie beyde, den Graffen und Markgraffen, hinder den Tuilleries gefunden. Darzu auch der Herr von Crequy und andere furnehme Leuth kommen und beyde kämpfende Theill auf der Erden aufeinander gefunden, also gefaßet daß keiner dem andern etwaß thun oder sein Gewehr mehr brauchen können. Nemlich nach deme sie mitt den Wehren alleine einander viellmahl under den Armen durch den Stich getragen, seind sie endlich auß großer Begirde ahn den Leib gefallen und gerungen. Ist aus einem Mißtritt oder sonsten der Herr von Schönberk gefallen, also daß der Markgraff auff ihn gesturtzet. Der von Schönberk sich mitt dem rechten Schenkell wieder auf ihn, den Markgraffen, geschwungen [fol. 203r] und darzu mitt der einen Hand den Markgraffen also inß Gesicht gefast, daß, wie gesagt, einer den andern nicht mehr offendiren können, auff welche der von Cresquy neben andere gefallen, beyde von einander gerißen, des Mißverständniß erkundiget und so balde mitteinander verglichen, mitt dem außtrücklichen Abscheitt, daß dieser Kampf keinem Theill zu Nachtheill oder Praeiuditz sein könte oder sollte, und wird der von Schönberk sonderlich gerühmet, daß er diesen Kampf so freiwilligk und in der Still ahngenommen. Der Markgraff aber ist in deß Konigeß Ungnadt etzliche Monat verblieben, der von Schonberk aber, weill er so balde darauf zum Königk nach Fontainbleau gezogen, hatt er von Ihrer Majestät viell Ehr entpfangen."

Aus: Wilhelm A. Eckhardt und Holger Th. Graf (Hg.), Sven Extenbrink und Ralf Pröve: Söldnerleben am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges. Lebenslauf und Kriegstagebuch 1617 des hessischen Obristen Caspar von Widmarckter. Beiträge zur Hessischen Geschichte. Verlag Trauvetter & Fischer Nachf. Marburg an der Lahn, 2000, S. 113f. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Donnerstag, 5. März 2015

Einige Hinweise zu den Ursprüngen der deutsch-italienischen Fechtkunst des 14. und 15. Jahrhunderts

von Paul Becker

Im Rahmen meines Geschichtsstudiums befasste ich mich 2010 mit deutschen Söldnern im Italien des 14. Jahrhundert. Parallel dazu arbeitete ich an einer Seminararbeit über das Rittertum und seine Bedeutung bis zum Ende des Hundertjährigen Krieges. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse sind zumindest nach meiner Meinung für die Ursprünge der Fechtkunst um Johannes Lichtenauer von einiger Bedeutung. Daher möchte ich im folgenden Aufsatz meine Erkenntnisse darlegen und sie in Verbindung zu genannten Ursprüngen der Fechtlehren stellen. Die historische Hinleitung zum Thema soll im Folgenden kurz beschrieben werden.

Einleitung

Die italienischen Staaten mit ihren reichen Städten (auch Reichsitalien genannt) waren für die deutschen Könige und Kaiser des Mittelalters stets eine Wirtschafts- und Geldquelle, die es meist mit Waffengewalt unter Kontrolle zu bringen galt. Bereits Kaiser Friedrich I. hatte versucht, Reichsitalien wieder enger zu binden, um vom Reichtum der Städte zu profitieren. Seine Bemühungen endeten jedoch in militärischen Niederlagen, die es den Städten ermöglichten, sich weitestgehend dem Reich zu entziehen. In seinen Feldzügen bediente er sich bereits einer nicht geringen Anzahl von Söldnern, die sein Heer verstärkten. Sein Enkel, der spätere Kaiser Friedrich II., war durch seine italienische Mutter und sein Exil im Zuge des Staufisch-Welfischen Thronfolgestreits in Italien aufgewachsen. Daher war es ihm möglich, den nötigen Einfluss aufzubauen, um Reichsitalien wieder an das Reich zu binden. Friedrich II. war einer der fortschrittlichsten Köpfe seiner Zeit und war offen für viele Formen der Wissenschaft. Er war der letzte Kaiser, der sich Reichsitalien wahrhaftig aneignen konnte. Mit dem Ende des Staufischen Kaisertums begann in der Mitte des 13. Jahrhunderts das „Interregnum“. In dieser Zeit hatten sich die italienischen Staaten wieder dem Reich entziehen können.

Erst nach zwei weiteren Generationen und der ständigen Wahl schwacher Könige und Gegenkönige, die nicht in der Lage waren einen Romzug zu unternehmen, um die Kaiserkrone zu erlangen, konnte Heinrich VII. aus dem Hause der Luxemburger 1312 erneut die Kaiserkrone gewinnen. Er versuchte erneut, Reichsitalien dem Reich zugänglich zu machen. Bereits 1310 zog er mit seinem Heer nach Italien  und war bis zu seiner Kaiserkrönung im Juni 1312 damit beschäftigt, in den norditalienischen Städten seine Interessen durchzusetzen und die Konflikte zwischen den Städten und den Ghibelinen und Guelfen zu Ausgleichen zu bringen und sie zu befrieden. Dazu musste er immer wieder militärisch eingreifen. Nach seiner Kaiserkrönung war Heinrich damit beschäftigt, seine Widersacher militärisch auszuschalten. Kurz bevor ihm dies zu gelingen schien, starb er an einer erneuten Erkrankung an Malaria. Kurz darauf löste sich sein Heer auf und zerstreute sich in „alle Himmelsrichtungen“.

In diesen Jahren, in denen Heinrich in Reichsitalien sowohl diplomatisch als auch militärisch aktiv war, entstanden nach mehr als 50 Jahren erneut Kontakte zwischen „deutschen“ und italienischen Rittern und Söldnern in größerem Maße. Die Truppen Heinrichs kämpften gegen italienische Aufgebote. Sie kämpften Seite an Seite mit den italischen Guibelinen gegen die italischen Guelfen.  Nach dem Tod des Kaisers löste sich das Heer Heinrichs auf. Doch nicht alle zogen zurück in ihre Heimat nördlich der Alpen. Die italienischen Städte, die Guibelinen und Guelfen bekämpften sich weiterhin und boten den „deutschen“ Kriegern Möglichkeiten, die ihnen in ihrer Heimat nicht gegeben werden konnten. Die italienischen Kriegsparteien waren reiche Städte und boten den hervorragenden und kriegserfahrenen Kämpfern von nördlich der Alpen verhältnismäßig hohe Summen Geldes für ihre Kriegsdienste an. Geldsummen, die ihnen in ihrer Heimat ein gutes Leben bescheren würden. Dies versprach vielen von ihnen unerwartete Chancen auf ein neues und besseres Leben. Sie kämpften unterschiedlich lange in den Heeren der nun beginnenden Konflikte in Reichsitalien. Ihre Erfahrungen und die Möglichkeiten, in Italien zu Ruhm und Reichtum zu kommen, trugen sie mit in ihre Heimat nördlich der Alpen. So kam es in den folgenden ca. 100 Jahren zu einem ungewohnt hohen Anstieg an deutschen „Saisonarbeitern“ im Kriegshandwerk, die sich in Italien profilierten. Der Personenkreis war sehr weit. Von hochadligen nachgeborenen Söhnen, denen nur ein geringes Erbe winkte, bis hin zum Edelknecht und möglicherweise auch Stadtbürgern zogen Deutsche als Söldner nach Italien. Es begann die Zeit der sogenannten großen Kompanien. Diese Kompanien bestanden aus Söldnern verschiedenster Herkunft. Neben Italienern und Deutschen waren es auch Briten (siehe John Hawkwood) und Franzosen, die sich in den Kompanien zusammentaten. Entweder wählten sie ihre Anführer,  oder ein Adliger mit gewissem Kapital warb Truppen für seine Zwecke an und kämpfte mit ihnen für eine der italienischen Kriegsparteien.  Wir befinden uns jetzt mitten in jener Zeitspanne, in der Johannes Lichtenauer vermutlich lebte und die auch noch Fiore de'i Liberis Leben maßgeblich zu seinem Wirken als Kämpfer und Fechtlehrer leitete. Daher schauen wir im Folgenden, wo die deutschen Söldner in Italien herkamen.

Lokalisierung und Identifizierung der deutschen Söldner

Die Italiener führten sehr gut Buch. Daher sind Soldlisten, Rechnungen und andere Akten der örtlichen Administration die ersten Anlaufstellen in den örtlichen Archiven, um auf Söldner zu stoßen und diese auf ihre Herkunft zu analysieren. Weitere Quellen sind Grabsteine, etwa auf dem Campo Santo Teutonico, der nur über den Vatikan erreichbar ist, Fresken in Kirchen und Kapellen, Notariatsimbreviaturen, Briefwechsel, Urkunden aus Klosterfonds und schließlich diplomatische Korrespondenzen der italienischen Machthaber. Prof. Dr. Stephan Selzer beurteilt in seinem Werk (1) die Zahl möglicher Fundorte als „beängstigend hoch“, weshalb eine Vollständigkeit nicht anzustreben sei. Absolut verständlich, wenn man bedenkt, dass allein zwischen 1343 und 1363 etwa 8500 verschiedene Personen unter dem Banner deutscher Herren standen und weitere 700 Bannerherren allein im Dienst des Papstes standen. (2) Hierbei ergibt sich jedoch das Problem, das die Zahlen nur überschlagen sind, da nur etwa 14% der Mannschaften mit Namen bekannt sind und das Licht somit meist nur auf die Bannerherren fällt.

Stephan Selzer erkannte, dass sich im Jahr 1354 einige Überlieferungsserien kreuzen und konnte für die Städte Florenz, Pisa und Spoleto, das päpstliche Heer und die große Kompanie etwa 3500 deutsche Söldner erfassen. Wenn man bedenkt, dass die Söldner aus Siena, Perugia, Bologna, Venedig und aus den Armeen der Malatesta, Este, Della Scala, Carrara und Visconti hier nicht einbezogen wurden, ist dies eine gewaltige Anzahl. (3) Ist die Lokalisierung gelungen, kann man, wie oben geschehen, Zahlenmaterial zusammentragen. Wir können vorerst zwar sagen, dass die Deutschen die weitaus größten Kontingente im behandelten Zeitraum stellten, da sie in Analysen zwischen 30% und 50% der Truppenkontingente ausmachten. Aber wir brauchen auch Analysen der einzelnen Personen. Selzer hat sich in seiner Forschung auch die Mühe gemacht, die Namen in Stichproben zu analysieren. Hierbei muss sich der Historiker der Problematik der Namensgebung stellen. So werden deutsche Namen stets italisiert bzw. latinisiert. Bei den Zunamen schrieben die Italiener nach Gehör auf. So konnte aus einem Johann von Eberhardsweiler ein Everhardo Suyler werden, aus einem Haneken Bongard ein Anechio Bongardo. Zuweilen bekamen ausländische Söldner und Bannerherren komplett neue italienische Namen. So im Falle John Hawkwoods, der Giovanni Acuto genannt wurde. Ein weiteres Problem ergibt sich bei Grafen, die nicht mit Herkunftsnamen genannt werden, sondern lediglich mit Titel und Taufnamen. So wurden die Grafen Eberhard, Lutz und Konrad von Landau schlicht il conte Everardo, il conte Lucio oder il conte Corrado geschrieben. Wenn man also Deutsche aus den Rechnungen und übrigen Akten gewinnen will, so muss man zum einen ein gutes Gespür für die italisierten Namen, zum anderen  aber eine gute Kenntnis der deutschen Adels- und Ortsnamen haben. Die nächste Stufe stellt schließlich der Versuch einer Identifizierung in Deutschland dar, der beim Großteil nicht möglich ist. Lediglich anhand der Zunamen ist bei vielen eine regionale Einordnung möglich. In den Darstellungen werden daher meist Beispiele von bedeutenden Persönlichkeiten angeführt. Für das von Stephan Selzer bearbeitete Material ergab sich aus Stichproben, dass sowohl in päpstlichen Diensten als auch der Stadt Pisa die Schwaben und Rheinländer (Niederrhein) die größten deutschen Gruppen (beide etwa 30%) darstellten. Die Motive und Ursachen für diese Verteilung sind vielfältig und wurden von Selzer ausführlich untersucht. (4) Die günstige Verkehrslage, gekoppelt mit der vergleichsweise geringen Entfernung, ist nur einer von vielen Gründen. Hinzu kommen die vergleichsweise hohe Rate von nachgeborenen Söhnen, sowie das Fehlen eines Hofes in Schwaben.

Der Großteil der Söldner in Italien kam also aus den deutschen Fürstentümern und vorwiegend aus  süddeutschen Herrschaftsgebieten. So etwa aus Schwaben, Baden, Bayern und Franken, aber auch dem Niederrhein. Doch blieben die meisten von ihnen nur für eine Saison, um sich entweder mit dem erlangten Ruhm schmücken zu können oder mit dem gewonnenen Geld in der Heimat glücklich zu werden. Meist waren es die Söldnerführer wie Werner von Urslingen, die sich über viele Jahre immer wieder in Italien aufhielten und ihre Kompanien den Heerführern anboten. Doch gibt es hier keine klare Trennung. Es gab damals ebenso wie heute jene, die sich nach ihrem Söldnerdasein in Italien niederließen, um dort ein neues Leben anzufangen. Andere blieben aus verschiedensten Gründen einige Jahre in Italien und kamen danach wieder in die Heimat.

Kontakte zwischen deutschen und italienischen Fechtlehrern

Beginnen wir nun, Bezug zur Fechtkunst zu nehmen. Der bekannteste deutsche Fechtmeister, dessen Wissen angeblich überliefert ist, war Johann Lichtenauer. Über sein Leben wird uns in den Quellen (hier am Beispiel der Handschrift Cod. Hs. 3227a) (6) nur berichtet, dass er aufgrund der Fechtkunst durch manche Länder gezogen ist, um deren Wahrhaftigkeit und Rechtfertigkeit zu erfahren. Man könnte also sagen, er hat durch das Ausüben der Fechtkunst in vielen Ländern die wahrhaftige und rechtfertige Fechtkunst erfahren wollen. Wie hätte er das wohl besser machen können, als in kriegerischen Unternehmen. Wenn es heißt, er hat manche Länder bereist, so waren damit auch Fürstentümer gemeint und nicht die Nationalstaaten im heutigen Sinne. Er könnte entweder als Edelknecht oder aus anderen Gründen im Gefolge eines hohen Adligen oder einer Kompanie nach Italien gelangt sein. Möglicherweise war er damals bereits als Fechtlehrer für deutsche Söldner in Italien, denn die italienische Sprache stellte für viele Deutsche in Italien ein Problem dar und ein deutscher Fechtlehrer währe gefragt gewesen. Oder aber er war selbst zuerst als Söldner unterwegs. Dies würde auch seine Kenntnisse im Roßfechten sowie im Harnischfechten erklären, die er als berittener Edelknecht wohl erlernte. Am Lebenslauf Hans Talhofers ließe sich ein solches Dasein in militärischen Diensten als Vorleben zur Arbeit als Fechtmeister ebenfalls darstellen.

Der italienische Fechtmeister Fiore de'i Liberi (um 1340 bis um 1420) berichtet auch, dass er von mehreren Fechtmeistern unterrichtet wurde, von denen der führende ein Deutscher namens Johane dicto suueno (7) gewesen sei. Vielleicht könnte Johannes Lichtenauer mit diesem Johane dicto suueno identisch sein. Zuerst einmal ist fraglich ob, suueno tatsächlich die italische Form für Schwabe sein soll, wie oft behauptet wird. Auch wenn man aus dem zweiten u ein gesprochenes v macht, so muss suveno nicht unbedingt für Schwaben stehen. Wie oben aufgezeigt, schrieben die Italiener unbekannte Namen nach Gehör, doch war ihnen der Name Schwaben sicher Begriff, denn viele der Deutschen kamen aus Schwaben. Wenn er ihn tatsächlich als Schwabe bezeichnete, so ist fraglich, ob er dies tat, weil er dort geboren war, oder weil er dort zuletzt gelebt bzw. sich dort niedergelassen hatte. In alten Chroniken wird auch von einem dänischen König berichtet, der im lateinischen Suueno oder Suuano (auch Suvano / Suveno) genannt wird. In Deutsch wird dieser Name als Sweno übersetzt und ist eine dänische Form von Sven. Möglicherweise handelt es sich bei suueno also auch einfach nur um einen von den Italiernern beigegebenen Spitznamen. Fiore berichtet auch, dass dieser Johannes bei einem Nicholai de toblem mexinensis diocesis gelernt habe. Diese Person und seine Herkunft sind bisher unbekannt. Anhand der Umformung deutscher Namen bei Söldnern kann aber angenommen werden, dass es sich um einen Mann mit dem deutschen Namen Nikolaus handelt. De toblem könnte eine Bezeichnung für den heutigen Ort Döbeln bei Meißen sein, welcher unter anderem auch die Schreibweise doblin oder dobeln hatte. Je nach Aussprache könnte dieser Ort von den Italienern unterschiedlich geschrieben worden sein. Döbeln liegt in jedem Fall nahe der Stadt Meißen. Denn mexinensis diocesis kann, sofern man diesen Nicholai de toblem mit einem Deutschen gleichsetzt, nur Bezug zur Diözese Meißen nehmen. Es wäre natürlich auch möglich, dass es sich bei Nicholai um einen Italiener handelte, der wie andere annehmen, aus Messina (Mexinensis) stammte. Schließlich gibt es eine italienische Quelle, die diese Schreibweise bestätigt. Der Necrolog eines gewissen Johannes de columna, qui fuit achiepiscopus mexinensis. Er war Anfang des 14. Jahrhunderts Erzbischof von Messina. Doch sucht man nach einem Ort Toblem im Bereich Messina vergebens. Interessant ist nun aber auch, dass es nur knapp 30 km von Döbeln bei Meißen entfernt den Ort Lichtenau gibt. Möglicherweise nur ein Zufall. Zumindest können in dieser Theorie aber alle Namen überein gebracht werden. Der genannte Johane dicto suueno muss zu seiner Zeit ein einflussreicher Fechtmeister gewesen sein. Fiore trainierte die bekanntesten deutschen Adligen seiner Zeit, die in Italien als Söldner unterwegs waren. So etwa Nikolaus von Urslingen.

Möglicherweise kam Lichtenauer ursprünglich aus Sachsen und machte seine ersten Erfahrungen möglicherweise bei einem Meister aus Ostdeutschland, der mit einem „Nikolaus von Döbeln“ identifiziert werden könnte. Auf seinem Weg nach Italien reiste er möglicherweise über die damals bekannten Pilgerwege von Sachsen nach Franken über Schwaben und über die Alpen in die norditalienischen Reichsgebiete, wo er sich spätestens einer Kompanie angeschlossen haben könnte. Geht man davon aus, dass Lichtenauer und Johane dicto Suueno identisch sind, so müsste der Austausch mit Fiore bereits um die Mitte des 14. Jahrhunderts in Italien stattgefunden haben. In Italien wird er den Kontakt mit Deutschstämmigen gesucht haben oder zumindest mit jenen Italienern, die dem Reich wohlgesonnen waren und mit denen er sich auch in seiner Muttersprache verständigen konnte. Wenn Fiore tatsächlich deutsche Verwandtschaft hatte, mag es kaum verwundern, dass sie in Kontakt gekommen sind. Weiterhin bleibt zu bedenken, dass Lichtenauer mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst ein Edelknecht war und möglicherweise aus adligem Hause stammte. Bezug nehmend auf die obige Herkunftsforschung bleibt aufzuzeigen, dass es in Sachsen auch ein Herrengeschlecht „von Lichtenau“ gab. In den Kämpfen in Italien und im Umgang mit italienischen Gleichgesinnten erweiterte Lichtenauer sicher seine Kenntnisse der Fechtkunst, was nicht heißt, dass er sich italienische Kampfesweisen aneignete, sondern vielmehr, dass er eigene Sichtweisen entwickelte oder erweiterte.

Letztlich ist es nicht wichtig, ob Johann Lichtenauer aus Sachsen oder aus Schwaben kam. Vielmehr sollten wir uns der gemeinsamen Entstehungszeit und den Umständen der ersten bekannten deutschen und italienischen Fechtlehren widmen, da diese, wie oben aufgezeigt, wahrscheinlich zur selben Zeit, im selben Raum unter ähnlichen Umständen und von deutschen und italienischen Fechtmeistern in gemeinsamen Austausch weiterentwickelt und festgehalten wurden.

Das 14. Jahrhundert war eine bedeutende Epoche für die Entwicklung der Fechtkunst. Neben neuen Militärtechnologien im Bereich Rüstung und Bewaffnung veränderte sich die Personalstruktur der Kriegerklasse der Heere und die Sozialstruktur im Allgemeinen. Der berittene Krieger Europas, der adlige Ritter, spaltete sich immer mehr in zwei Gruppen. Zum einen der hochadlige Ritter, der versuchte, sich in Turnieren Ruhm zu verschaffen und in den großen Schlachten, etwa des Hundertjährigen Krieges, wegen jener Ruhmsucht oft den militärischen und taktischen Hintergrund seiner Tätigkeit vergass und dadurch zur Niederlage der Ritterheere in vielen Schlachten maßgeblich beitrug. Auf der anderen Seite jene ritterbürtigen Edelknechte, die sich oft aus mangelnder Finanzkraft den Ritterschlag nicht leisten konnten, da mit ihm eine gewisse Aufwendung an Personal und Material verbunden war. (8) Sie versuchten sich auf den Schlachtfeldern Europas als Söldner ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Trotz des fehlenden Ritterschlages wurden sie von ihren Zeitgenossen als Ritter angesehen. Verkörperten sie doch den eigentlichen europäischen Krieger. Zeichen von Ruhm und Ehrerbietung lassen sich auch heute noch in den Gedenkstätten gefallener deutscher Ritter und Edelknechte jener Zeit in Italien finden. Hinzu kam schließlich die steigende Finanzkraft der Städte, die es den kleinen adligen Familien noch weiter erschwerte, an ihrem sozialen Stand festzuhalten. Auch in den deutschen Ländern gingen Edelknechte in die Dienste von Städten. In dieser von Kriegen gezeichneten Periode des Mittelalters waren es vor allem Deutsche und Italiener, die gemeinsam auf den Kriegsschauplätzen von Reichsitalien kämpften und den Austausch der Kulturen intensivierten. Dieser Austausch trug auch im Bereich der Fechtkunst maßgeblich dazu bei, dass sie sich zu dem entwickelte, was sie war. Eine Kampfkunst, die den adligen Rittern und Edelknechten vorbehalten war. Möglicherweise war es die Verarmung der Edelknechte, zu denen sicher auch die ersten Fechtmeister gehörten, die dazu führte dass sie ihre Kunst z.B. für gerichtliche Zweikämpfe an Bürger weitergaben. Ihre erhaltenen Schriften richteten sich jedoch weiterhin an Adlige, also jene Empfänger, denen die Kunst ursprünglich auch vorbehalten war.

Warum sich Fiores und Lichtenauers Lehren teilweise sehr unterscheiden, kann unterschiedliche Gründe haben. Vielleicht ist es nur Zufall, dass spätere bürgerliche Fechtmeister an Lichtenauers Merkverse gelangten und diese auf ihre Weise interpretierten. Der Verfasser der Hs. 3227a um 1389 beschreibt schließlich auch keine genauen Techniken sondern versucht Lichtenauers Prinzipien zu erklären. Spätere Fechtmeister versuchen dies, indem sie den Merkversen genaue Techniken zuschreiben. Möglicherweise ist eben dieser Sachverhalt ein Zeichen dafür, dass die eigentliche Lichtenauerlehre von anderen Meistern aus einer schlechten Quelle stets erneut reproduziert wurde. Denn Lichtenauer hatte seine Lehre vermutlich für jenen Ernstfall zusammengetragen, den auch er in Reichsitalien erlebt haben könnte, den Krieg oder Duelle zwischen Adligen bzw. Rittern und Edelknechten. Möglicherweise rühren auch da Lichtenauers einleitenden Worte her, wenn er den Ritterheiligen St. Georg beschwört und an die ritterlichen Tugenden erinnert. Von ihm selbst sind keine Werke bekannt. Aus seiner Zeit und von ihm selbst sind nur seine Merkverse über die Hs. 3227a in ihrer ältesten Form überliefert.

Fiore wiederum hatte Lichtenauer nur als einen von vielen Lehrmeistern. Er zog vielleicht andere Schlüsse aus den Lehren seiner Meister. Der Einfluss des Johane dicto suueno muss aber ein großer gewesen sein, da er ihn besonders hervorhebt. Fiore hat seine Kunst ebenfalls vorzugsweise an Adlige weiter gegeben. Diese Unterschiede und mögliche Gemeinsamkeiten zu erarbeiten sollte ebenfalls ein Ziel künftiger Forschungen sein.

Zur Überlieferung

Eines dürfen wir als Historiker auch in der Fechtgeschichte nicht vergessen. Wir wissen was uns in der überlieferten Quelle mitgeteilt wurde. Wir wissen nicht, was wir nicht wissen! Und genau aus diesem Grund ist die Handschrift Hs.3227a die möglicherweise wertvollste in der Tradition Liechtenauers. Wenn wir uns hier den Begriffen Überlieferungschance und Überlieferungszufall widmen, wie sie einst Arnold Esch darstellte, wird dies deutlich. (9) Als Historiker müssen wir uns in der Quellenanalyse stets auch fragen, warum Quellen erhalten sind, also ob eine Quelle zufällig, mit Glück überliefert ist, oder ob sie absichtlich aus einem bestimmten Grund überliefert wurde. Wie hoch also die Chance gewesen ist, dass dieser Quellentyp erhalten werden sollte bzw. erhalten geblieben ist.

Die meisten Fechthandschriften der Liechtenauertradition wurden aus rein kommerziellen Gründen erstellt. So etwa jene reich bebilderten Handschriften von Hans Thalhofer und Paulus Kal, welche diese im Auftrag ihrer Dienstherren, also von Adelsgeschlechtern erstellten, welche diese wiederum als Form der Selbstdarstellung, als Statussymbole oder als Geschichten und Beweise der Taten der Adelsfamilien nutzten. Gleichzeitig dienten eben diese Werke auch als Werbung für diese Fechtmeister, die in detaillierten Zeichnungen das ihr Können darstellten und somit für ihre Expertise derselben Kunst warben. Das sich solche Werke lange im Familienbesitz hielten und selbst nach dem Aussterben der Familien in staatlichen Organisationsstrukturen gepflegt wurden, ist durch den materiellen und kulturellen Wert nur allzu nachvollziehbar. Darüber hinaus ließen verschiedene Meister auch Sammelwerke anfertigen, welche die Liechtenauersche Lehre meist in reinem Text oder aber auch teilbebildert beschrieb, um entweder dem Meister selbst als Nachschlagewerk zu dienen, den Schülern das Wissen weiter zu reichen, oder aber später auch mit den Werken an sich Geld zu verdienen. Auch solche Werke, wie etwa der Cod. 44A8, MS German Quarto 2020 oder auch Cod.I.6.4º.3 haben sich erhalten, da sie nicht für einen kurzfristigen Zeitpunkt oder nur für einen Lebensabschnitt verfasst wurden. Der Aufwand und die Kosten diese Werke herzustellen, machten sie bereits zu wertvollen Stücken, welche es lohnte, zu erhalten und die teilweise auch in die Hände von Adligen gelangten. Denn der Adel, der eben aus dem Kriegswesen hervorgegangen war und sich dessen stets bewusst war, hatte immer er ein hohes Interesse an Literatur zu Krieg und Kampfesweisen. Die Chance, dass ein solches Werk erhalten bleibt, war demnach immer groß. Man hat uns also gewollt einen Brotkrumen hingeworfen, an dem wir uns erlaben sollen.

Anders verhält es sich mit der Hs. 3227a. Sie ist in einem Haushaltsbuch oder eher einem Notizbuch niedergeschrieben. Dieses wurde möglicherweise von einem Studenten aus einer adligen Familie oder dem Patriziat angelegt. Viel eher aber von einem sehr gebildeten Menschen, der möglicherweise auch mit dem Kriegshandwerk in Verbindung stand. Denn im ausgehenden 14. und beginnenden 15. Jahrhundert war das Wissen um Feuerwerkerei und Eisenhärtung vor allem für jene von Interesse, die mit den neuen Feuerwaffen in militärischen Diensten standen. Die Hs. 3227a   wurde im Gegensatz zu den übrigen Handschriften nie geschrieben, um sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Als Notizbuch war sie als reine Gedankenstütze und Wissenskatalog für den Verfasser desselben gedacht und sollte demnach wohl kaum seine Lebensspanne überdauern. Sie enthält also ein Wissen, dass man sicher und tatsächlich noch geheim halten wollte. Die Chance, dass ein solches Notizbuch erhalten bleibt, wäre demnach Verhältnismäßig gering. Um es mit Arnold Esch’s Worten zu sagen: die „Überlieferungschance“ ist gering. Es ist ein Überlieferungszufall, der uns diese Quelle überliefert. Zum einen ist das für den Historiker schlecht, da sich eine Evaluation dieses Quellentypus somit erübrigt. Vergleichswerke zu finden, ist eher unwahrscheinlich und bringt für den Quellentypus keine verwertbaren Zahlen. Doch aus inhaltlicher Sicht verschaffen eben diese glücklicherweise überlieferten Quellen, auch wenn sie möglicherweise nur in Bruchteilen vorhanden sind, dem Historiker und HEMA-Forscher unschätzbar wertvolle Erkenntnisse. Denn sie spiegeln den tatsächlichen geistigen Niederschlag zur Lehre Liechtenauers wieder und differenzieren nicht jene Inhalte heraus, die der Öffentlichkeit vorenthalten werden sollten. Letztlich finden wir in der Hs. 3227a auch stets Dinge, die komplett im Wiederspruch zu späteren Interpretationen der Lichtenauerverse stehen. (10) Wir gelangen demnach durch den Überlieferungszufall zu Wissen und Inhalten, die wir eigentlich nicht wissen sollten. Diese Handschrift könnte demnach eine Art handschriftliches „Pompei“ der Liechtenauerlehre sein. Und vielleicht finden wir im Rahmen dieser Analysemethode weitere Quellen, die diesem Typus zuzuordnen sind und können neue Erkenntnisse gewinnen.

Anmerkungen

(1) Stephan Selzer, Deutsche Söldner im Italien des Trecento, Tübingen 2001.
(2) Selzer 2001: S. 28f.
(3) Ebenda
(4) Zu einer tiefgreifenden Übersicht der Motive vgl. Selzer 2001: S. 217ff und Kap. III. 3.
(5) Ders. S. 285 nennt vor allem das Fehlen eines Hofes in Schwaben als Ursache.
(6) Handschrift Cod. Hs. 3227a aus der Bibliothek des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg, im Folgenden nur als Hs. 3227a bezeichnet. Die Handschrift ist auch unter dem Namen Hanko Döbringer bekannt, der fälschlicherweise oft als Autor genannt wird.
(7) Francesco Novati, Flos duellatorum in armis, sine armis, equester, pedester = Il fior di battaglia / di maestro Fiore dei Liberi da Premariacco. Testo ined. del 1410 pubbl. ed ill. a cura di Francesco Novati, Bergamo 1902, S. 121 (Carta 2a).
(8) Daher entstanden im englischen und französischen Sprachraum auch die Begriffe „men at arms“ und „homme d‘ armes“. Im Deutschen wir dafür die Begriffe Waffenknecht oder Edelknecht genutzt. Alle Begriffe bezeichnen einen gepanzerten und berittenen Krieger. Während ein Ritter mit Ritterschlag stets auch ein Waffenknecht war, so hatte nicht jeder Waffenknecht den Ritterschlag erhalten.
(9) Arnold Esch: Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers, in: Historische Zeitschrift, 240 (1985), S. 529–570 Online MGH-Bibliothek; auch in: Ders.: Der Historiker und die Erfahrung vergangener Zeiten. München 1994, S. 39–69.
(10) Als Beispiele etwa die Hut Pflug, die in der HS 3227a den späteren Darstellungen des Albers oder der Eisenport ähnelt. Weiterhin die Erklärung des Merkverses „Haw kru~p czu~ flechen
den meistern wiltu sie swechen“. In der Urform der Hs. 3227a stand man soll mit seinem Schwert zur Fläche des gegnerischen Schwertes schlagen. Dies wurde vom Verfasser später durchgestrichen und er schrieb man solle mit der eigenen Fläche zum gegnerischen Schwert schlagen. Die Glossen späterer Werke zu diesem Merkvers beschreiben nie, dass man mit der Fläche zum gegnerischen Schwert schlagen soll. Lediglich Paulus Kal nimmt wieder Bezug zu dieser Funktionsweise. Wir haben es jedoch ausprobiert und es ist durchaus effektiv beim Krumphau.