Montag, 20. August 2012

"Heraus aus dem Schattendasein der Archive" - Ein Interview mit Andreas Meier über Fechtbücher, deren Transkription und die 'Gesellschaft für Pragmatische Schriftlichkeit'

Andreas Meier beschäftigt sich seit mittlerweile mehr als 20 Jahren mit der Erschließung und Erforschung historischer europäischer Fecht- und Fachbücher. Er ist außerdem Mitglied der 'Gesellschaft für Pragmatische Schriftlichkeit', die es sich zur Aufgabe gemacht hat,  die mittelalterliche Fachliteratur (= pragmatische Schriftlichkeit) aus ihrem "Schattendasein der Archive" zu befreien. Fechtgeschichte sprach mit ihm.

Fechtgeschichte: Hallo Andreas. Wir haben nicht schlecht gestaunt, als wir im Vorfeld zu diesem Interview erfuhren, dass du dich persönlich bereits seit 1990 mit Fechthandschriften beschäftigst. Wie bist du seinerzeit dazu gekommen?

Andreas Meier: Hallo. Nun wie kommt man zu so einer Leidenschaft? Zum einen war mein Interesse für Geschichte schon immer sehr ausgeprägt. Hinzu kam meine Vorliebe für Kampfkünste. Irgendwann stellte ich mir die Frage, ob es bei uns eine hochentwickelte Kampf- und Fechtweise gab und so machte ich mich auf die Suche. Ernsthaft wurde es im Jahr 1992, mit dem Kauf des Buches von Hans-Peter Hills „Meister Johann Lichtenauers Kunst des langen Schwertes“ (Anm. d. Red.: Hans-Peter Hils: Meister Johann Liechtenauers Kunst des langen Schwertes, Frankfurt a.M./Bern/New York 1985).

Fechtgeschichte: Ein wichtiges Element der Fechtbuchforschung ist die Transkription jener alten Texte. Kannst du unseren  Lesern kurz umreißen, was eine  Transkription eigentlich ist und was sie beinhaltet?

Andreas Meier: Das ist einfach erklärt. Eine Transkription ist das Übertragen einer alten Schrift in unsere heute verwendete Schrift. Darüber hinaus werden bei einer Transkription auch andere Texterscheinungen beschrieben. Das können z. B. Beschädigungen des Papiers sein oder Abkürzungen, die heute nicht mehr bekannt sind. Auch werden heute nicht mehr verwendete Ortsnamen, Maßeinheiten, Abkürzungen, Worte in einem Anhang oder in einer Fußnote erklärt. Für gewöhnlich wird der Transkription auch eine Beschreibung der Handschrift vorangestellt, in der man alles Wissenswerte zum Autor, der Handschrift selbst, der Schrift usw. aufführt. Wichtig für andere Bearbeiter ist es, dass man seine Regeln, die man für die Transkription angewandt hat, mit angibt.

Fechtgeschichte: Blicken wir noch einmal in deine Vergangenheit. Was war dein erstes Transkriptions-Projekt?

Andreas Meier: Mein erstes wirkliches, also auf wissenschaftlicher Grundlage basierendes  Transkriptions-Projekt, war die Handschrift ms.germ.quart 16 „Gladiatoria“. Sie wird aufbewahrt in der Jagellonischen  Bibliothek von Krakau.

Fechtgeschichte: Warum wähltest du die ms.germ.quart 16 „Gladiatoria“?

Andreas Meier: Da muss ich etwas ausholen. Im Jahr 2002/03 startete der erste Unterricht "Seminar Fechtbücher - Sprache, Paläographie, Handschriftenpraxis", den ich zusammen mit Frau Freundl, einer ehemaligen Mitarbeiterin der Bayerischen Staatsbibliothek organisiert habe. Im Verlauf der Lektionen keimte die Idee, dass Erlernte gleich in einer Transkription umzusetzen. Nach einigem Überlegen entschieden wir uns für die „Gladiatoria“, da sie uns als digitale Kopie vorlag und der Text von einem professionellen Schreiber stammt und daher gut lesbar war.

Fechtgeschichte: Welche Erfahrungen konntet ihr aus dieser ersten Transkription für euch mitnehmen?

Andreas Meier: Das waren eine ganze Menge. Wichtig war unter anderem, dass wir erfahren haben, wo man Informationen zu einer Handschrift bekommen kann und welche Lexika und Wörterbücher hilfreich sind zum Textverständnis. Auch mussten wir lernen, dass eine gute Koordination unerlässlich ist, wenn man mit mehreren Personen an einem Dokument arbeitet. Da haben wir doch einiges durch zeitlichen Mehraufwand ausgleichen müssen.

Fechtgeschichte: Wenn du dir ein neues Transkriptions-Projekt vornimmst, womit beginnst du deine Arbeit?

Andreas Meier: Zunächst gilt es eine Handschrift ausfindig zu machen. Dieser Schritt, Heuristik genannt, ist dank den Arbeiten von Herrn Wirschin (Anm. d. Red.: Martin Wierschin, Meister Johann Liechtenauers Kunst des Fechtens. München, 1965) und Herrn Hills (Anm.: s. o.) glücklicherweise sehr vereinfacht worden. Sie führen in Ihren Katalogen die meisten bekannten Handschriften zu diesem Thema auf. Die Auswahl hängt von meiner Vorliebe ab. Entscheidend ist natürlich auch, ob bereits eine gute Transkription/Edition vorliegt. Anschließend trage ich alles zusammen, was über die Handschrift und den Autor bereits bekannt und veröffentlicht ist. Dies können Aufsätze, Abhandlungen in Fachbüchern, Handschriftenkataloge, Archivdokumente, Steuerlisten und vieles mehr sein. Handelt es sich um mehrere Handschriften eines Autors, wird nun eine Leithandschrift für die Transkription ausgewählt. Anhand dieser beginne ich mit der Transkription und gleiche Sie, vereinfacht ausgedrückt, mit den anderen Handschriften des Autors ab.

Fechtgeschichte: Auf welche Besonderheiten - und möglicherweise auch Probleme - wird man bei der Transkription eines Textes aus dem 15. oder 16. Jahrhundert treffen?

Andreas Meier: Zunächst hat man es mit den Eigenarten des Schreibers zu tun. Die Bandbreite reicht von sehr gut leserlichen Handschriften bis zu grausig hingeschmierten Texten, die eine echte Herausforderung darstellen. Hierzu fällt mir insbesondere die Handschrift von Hans Folz Q566 der Herzog Anna Amalia Bibliothek ein. Bei Texten des Spätmittelalters stellt sich das Problem, dass es damals keine Vereinheitlichung der Rechtschreibung und der Grammatik gab. Eine Interpunktion war mehr oder weniger unbekannt, Groß- und Kleinschreibung oft sehr schwer zu ermitteln und wurde ohne eine zu Grunde liegende  Regel eingesetzt. Es kommt immer wieder vor, dass dasselbe Wort in einem Satz verschieden geschrieben wurde. Kurz gesagt, man schrieb wie man sprach. Das aber lässt Rückschlüsse auf die Herkunft der Handschrift zu, da man den Dialekt gut einordnen kann. Auch wird man sehr bald bemerken, dass oft mit Abbreviaturen, also Auslassungszeichen, gearbeitet wurde. Hierbei kürzt der Schreiber Buchstaben mit bestimmten Zeichen ab. Es gibt natürlich noch viel mehr Besonderheiten, die aber weit über den Rahmen dieses Interviews hinausgehen würden. Ich gebe jedoch sehr gerne Hilfestellung, wenn jemand Fragen zu bestimmten Texterscheinungen hat.

Fechtgeschichte: Du bist auch ein Mitglied der 'Gesellschaft  für Pragmatische Schriftlichkeit'. Erzähle unseren Lesern doch bitte ein wenig mehr von eurer Gruppe.

Andreas Meier: Im Jahr 2002/03 organisierte ich den anfangs bereits erwähnten Unterricht. Es nahmen acht Personen an den insgesamt zwei halbjährigen Blöcken teil. Während des Unterrichtes keimte die Idee auf, eine Plattform zum Veröffentlichen unserer Arbeit und der anderer Autoren ins Leben zu rufen. Da die Fechthandschriften zu dem Komplex der Pragmatischen Schriften zählen, kam es, dass wir uns den Namen 'Gesellschaft für pragmatische Schriftlichkeit' gaben. Von den ursprünglich acht Personen sind heute noch vier aktiv tätig. Erfreulicherweise konnten wir auch andere Forscher, wie z. B.  Herrn Dupuis (Anm.d.Red.: HEMA-Mitglied aus Frankreich), für unsere Projekte gewinnen. Grundsätzlich kann jeder, der seine Transkription auf einer wissenschaftlichen Basis erstellt, seine Arbeit bei uns veröffentlichen.

Fechtgeschichte: Die 'Gesellschaft  für Pragmatische Schriftlichkeit' hat bereits acht Handschriften des 15. und 16. Jahrhunderts transkribiert. Kannst du bitte ein Projekt davon auswählen und an diesem eure Arbeitsweise etwas näher erläutern?

Andreas Meier: Genaugenommen haben wir sogar 12 Handschriften bearbeitet. Sieben davon als Transkription und eine als Edition. Bei der Edition handelte es sich um das Werk von Paulus Kal, das alle seine bekannten Handschriften umfasste. Insgesamt waren es fünf Stück, die wir im Zuge der Arbeit transkribiert haben. Nehmen wir doch auch gleich mein Lieblingsprojekt, den Paulus Kal, um unsere Arbeitsweise zu erläutern. Bei diesem Projekt haben wir mit vier Personen gearbeitet. Die Handschriften wurden aufgeteilt und nach vorher festgelegten Transkriptions-Richtlinien bearbeitet. In einem Masterdokument wurden dann die Ergebnisse jedes einzelnen zusammengeführt. Anschließend kam die wichtigste, aber zugleich auch anstrengendste Arbeit: das Korrekturlesen. Jeder der Mitwirkenden las die gesamte Transkription und korrigierte Fehler. Schwierige Textstellen wurden in gemeinsamen Treffen erörtert. Insgesamt wurde dieses Korrekturlesen fünfmal wiederholt. Zeitgleich begann die Arbeit an dem Vorwort und der Beschreibung der Handschriften. Mühsam gestaltete sich hierbei die Kommunikation mit der Universität in Bologna. Die Antworten auf meine Anfragen kamen grundsätzlich in Italienisch zurück, aber auch das konnten wir lösen. Bei dieser Edition konnten wir erstmals alles nutzen, was wir seinerzeit bei Frau Freundl gelernt hatten: die Erstellung eines textkritischen  Apparats zum Beispiel, oder aber Rückschlüsse auf einen Archetyp zu ziehen, um nur einiges zu nennen.

Fechtgeschichte: Auf welche Weise werden die abgeschlossenen Projekte veröffentlicht?

Andreas Meier: Zumeist stellen wir die Arbeiten kostenfrei auf unserer Hompage zur Verfügung. Einige Arbeiten sind auch als Buch oder in Form eines Aufsatzes veröffentlicht worden.

Fechtgeschichte: Auch im Moment wird bei der 'Pragmatischen Schriftlichkeit' an einigen Projekten gearbeitet. Kannst du über diese Projekte bitte etwas mehr erzählen?

Andreas Meier: Da bei uns jeder eigenverantwortlich an seinen Projekten arbeitet,  kann ich zu den Arbeiten meiner Kollegen nicht allzu viel sagen. Die Transkription zu der Handschrift des Juden Lew Cod.I.6.40.3 aus der Universitätsbibliothek Augsburg ist beinahe abgeschlossen, hier habe ich Herrn Brunner (Anm.d.Red.: Mitglied der "Pragmatischen Schriftlichkeit") mit Korrekturlesen unterstützen können. Der Stand zu den Arbeiten des Roßarzneibuch cpg406 aus der Universitätsbibliothek Heidelberg sowie des Kriegsbuches Cod.3069 aus der Österreichischen Nationalbibliothek entziehen sich meiner Kenntnis, da Herr Brunner diese bearbeitet. Die Transkription zu Jörg Wilhalm ist ebenfalls in Arbeit, aber zurzeit etwas ins Stocken geraten. Ich selbst suche momentan jemanden, der mir bei der Bearbeitung eines Lateinischen Textes helfen kann.

Fechtgeschichte: Kannst du uns verraten, um was für einen lateinischen Text es sich dabei handelt?

Andreas Meier: Da hab ich mich jetzt aber etwas verplappert. Ich möchte noch etwas hinterm Berg halten, da der Text weitgehend unbekannt ist. Aber so viel sei gesagt, dass es sich um eine Fechthandschrift aus den 16 Jhd. handelt, die aus dem deutschsprachigen Raum stammt. Sobald ich jemanden habe, der mir damit helfen kann, werde ich eine Ankündigung auf unserer Seite machen.

Fechtgeschichte: Wir sind sehr gespannt auf die Ankündigung und werden die Seite der 'Pragmatischen Schriftlichkeit' aufmerksam verfolgen. Doch jetzt erst einmal zu etwas anderem. Du hältst auch Vorträge über die Transkription alter Texte. Wie baust du diese Vorträge auf?

Andreas Meier: Der Vortrag ist in folgende Bereiche unterteilt: Heuristik, Lesen und Entziffern von Texten, Transkription und Editionspraxis sowie Handschriftenbeschreibung. Der gesamte Vortrag dauert ca. 6-7 Stunden (mit Übungen zum Lesen und Entziffern). Sinnvollerweise teile ich das auf zwei Tage auf, da so viel Theorie doch sehr anstrengend ist.

Fechtgeschichte: Welche Fragen werden dir bei deinen Vorträgen besonders häufig gestellt?

Andreas Meier: Die meisten Fragen werden zu den Komplexen 'Lesen und Entziffern' gestellt. Hier geht es meist darum, wie bestimmte Worte oder Buchstaben übertragen werden. Aber gleichermaßen gibt es auch zu Groß- und Kleinschreibung und Interpunktion häufig Fragen.

Fechtgeschichte: Welchen Tipp würdest du einem Anfänger mit auf dem Weg geben, der seine erste Transkription anfertigen möchte?

Andreas Meier: Zuerst sollte er sich mit der Schrift des gewählten Zeitabschnittes vertraut machen. Das ist sozusagen das Grundgerüst, auf dem er aufbauen kann. Auch sollte er darauf achten, alle recherchierten Fakten gut zu dokumentieren. Dieser Punkt ist nicht zu unterschätzen, denn man glaubt Anfangs gar nicht, wie schwierig es ist, bei den vielen Fundstücken, Lebensdaten und Textbelegen zum Text und oder dem Autor den Überblick zu behalten.

Fechtgeschichte: Und zu guter Letzt: Du beschäftigst dich seit mehr als 20 Jahren mit alten Handschriften. Gab es auch mal Zeiten, an denen du Abbreviaturen, Majuskeln, Minuskeln und dergleichen einfach mal nicht mehr sehen konntest?

Andreas Meier: Das könnte man vermuten, aber das Interesse an den Fechthandschriften ist einfach zu groß, als dass es mir langweilig wird. Einzig das Korrekturlesen stellt mich ab und an auf eine harte Probe.

Fechtgeschichte: Vielen Dank für dieses ausführliche Interview.

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