Montag, 26. November 2012

„her hat manche lant durchfaren vnd gesucht" - Ein Interview mit Marcus Hampel über das Projekt swordsurfing.com

Fechter der Vergangenheit erlernten oder verfeinerten ihr Handwerk nicht selten auf ausgedehnten Reisen. Bereits die Hs. 3227A – datiert auf das Ende des 14. Jahrhunderts – schreibt über den Fechtmeister Johannes Liechtenauer: „her hat manche lant / durchfaren vnd gesucht / durch der selbn rechtvertigen vnd warhaftige kunst wille / das her dy io irvare vnd wissen welde“. Wir kennen viele weitere Beispiele dafür. Die Marxbrüder reisten durchs Land und einmal im Jahr zu ihrer großen Versammlung nach Frankfurt an den Main. Johann Georg Paschen kam in den Sächsischen Fürstentümern und Mecklenburg umher. Joachim Meyer und Jéann Daniel L'Ange bereisten Italien. Und Johann Andreas Schmidt verschlug es ans Islemeer nach Amsterdam. Um nur einige zu nennen.

Auch heute nehmen die Fechter der historischen Europäischen Kampfkünste weite Strecken auf sich, um voneinander zu lernen. Europaweite Veranstaltungen haben sich etabliert und füllen regelmäßig die großen Sporthallen von Wien, Dijon oder beim Schwedischen 'Swordfish'. Auch im kleineren Rahmen sind Trainingsbesuche der verschiedenen HEMA-Gruppen untereinander längst Normalität.
Hier setzt swordsurfing.com an. Dem modernen Fechter will es in naher Zukunft eine Internetplattform bieten, auf der er seine Reisen zu Trainingsgruppen in andere Städte oder Länder verabreden und organisieren kann. Um die Idee hinter swordsurfing.com zu zitieren: "trainieren, sich treffen, Kontakte knüpfen und  pflegen“. Fechtgeschichte sprach mit Marcus Hampel, dem Initiator des ambitionierten Projekts.

Fechtgeschichte: Wird Swordsurfing.com ein Facebook für historische Fechter werden?

Marcus Hampel: Definitiv nein, so etwas ist nicht beabsichtigt. Es wird vielmehr eine Plattform werden, die bestehende Medien ergänzen wird. Die großen, bekannten Web 2.0-Anwendungen wie Facebook oder Twitter sind super, um auf unterschiedlichste Art und Weise in der virtuellen Welt in Kontakt zu bleiben und Informationen auszutauschen. Wenn es aber zu konkreten Verabredungen zum Training kommen soll oder man einen speziellen Trainingspartner oder -platz sucht, dann sind sie alle gleich: über Suche, private Nachrichten und Email nähert man sich sehr mühsam an Termin, Ort und Trainingsumstände an. Und zu denen gehört auch die Übernachtung. Und an dem Punkt setzt Swordsurfing.com an. Wer dort mitmacht, ist daran interessiert, andere Fechter zu beherbergen, sie selber zu besuchen und mit ihnen zu trainieren. Swordsurfing.com ist quasi die Verbindung von Virtuell zu Reell. Und über Schwertkampf kann man bekanntlich viel sprechen, besser ist aber das Machen. Das wird durch Swordsurfing.com viel einfacher werden.

Fechtgeschichte: Wie ist die Idee zu Swordsurfing.com entstanden?

Marcus Hampel: Die Idee ist langsam gewachsen. Am Anfang stand eine kurze Zeit, in der ich quasi obdachlos war. Das war im August 2008. Meine damalige Freundin und ich hatten uns getrennt und ich war nur mit meiner Fechttasche und meinen Schwertern im Auto im Rheinland unterwegs und pendelte täglich zwischen meiner Arbeitsstelle und den Wohnungen und Häusern von Freunden. Einige von ihnen sind auch historische Fechter und so hatte ich in der Zeit mehr Training als je zuvor. Eine tolle Zeit! Ich war etwas traurig, als sie vorbei war. Im Jahr 2010 und 2011 habe ich dann mit Freunden zwei Fechttouren unternommen, die eine durch Deutschland, die andere durch Schweden. Beide Male hat es uns viel Planungsaufwand gekostet, die verschiedenen Gruppen überhaupt zu finden, sie anzuschreiben und mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Es hat sich zwar gelohnt, denn am Ende haben wir zusammen fast zwanzig Vereine besucht und viel gelernt, erlebt und neue Freunde kennen gelernt. Aber etwas einfacher hätte es schon sein dürfen. 2012 habe ich dann etwa ein halbes Dutzend Fechter über das Jahr bei mir in Hamburg empfangen. Hier das gleiche Bild - viel Spaß und Training, aber auch viel Planung im Vorfeld. Man muss so viel bedenken, wenn man jemanden einlädt.
Zusammenfassend kann ich sagen, dass sowohl unsere Gastgeber als auch meine Gäste begeistert waren. Die Idee, andere Schwertkämpfer zu treffen, bereitete viel Freude. Aber meine Schilderung, wie viel Aufwand es teilweise war, welche Unklarheiten zum Teil bis kurz vor dem jeweiligen Treffen bestanden und welche Zufälle nötig waren, schreckten doch Einige ab. Und mehr als nur einmal wurde ich gefragt, ob ich meine Tipps aufschreiben oder einen Service anbieten könne, der meine Erfahrungen abbildet. Swordsurfing.com wird exakt das tun.

Fechtgeschichte: Welche Möglichkeiten wird Swordsurfing.com bieten?

Marcus Hampel: Ein ganz zentraler Bestandteil werden die unterschiedlichen Profile sein. Ein generelles Profil wird Daten wie Name, Alter, Sprache und Ähnliches enthalten. Diesen Teil kennt man von so ziemlich jedem Account bei allen Plattformen. Ein Gastgeberprofil wird beschreiben, was man anbietet, also was der Gast erwarten kann. Das sind neben einem Schlafplatz auch weitere alltägliche Dinge wie etwa, ob im Haushalt Kinder willkommen sind, ob es Haustiere gibt und ob man Dinge wie Küche und Waschmaschine mit benutzen kann. Ein Anfrageprofil regelt, welche Gastgeber man ansprechen, bzw. von welchen Gastgebern man eingeladen werden möchte. Das kann wichtig sein, wenn man z.B. gern mit Kindern oder bei (Nicht-)Rauchern unterkommen möchte. Oder ob man einfach nur einen Kontakt in der Nähe sucht und keine Fernreise unternehmen möchte. Der wichtigste Teil ist aber das Kämpferprofil. Dort werden die speziellen Schwertkampfwünsche berücksichtigt. Das sind viele, wie z.B. “Welche Waffe trainiere ich, an welcher Waffe bin ich interessiert? Möchte ich lehren oder lernen? Bin ich eher auf Training, Freikampf oder Interpretation aus? Welche Quelle lege ich meiner Arbeit zugrunde?” und noch einiges mehr. Wenn nun die eine oder andere Seite einen Trainingspartner gefunden hat, dann wird man mit wenigen Klicks eine Anfrage starten und eine Zusage erteilen können. Sensible Daten wie Adresse und Telefonnummern können in diesem Schritt dann offen gelegt werden, zuvor sind sie geschützt. Das ist im Wesentlichen der Kern der Idee. Weitere Funktionen werden durch eine saubere Architektur problemlos einführbar sein, denn wir wollen Swordsurfing.com möglichst zukunftssicher aufbauen. Im Übrigen, wir werden im ersten Schritt alles in englischer Sprache verfassen. Meine Erfahrung zeigt, dass viele Fechter gutes Englisch sprechen und wir mit lokalen Varianten erst beginnen sollten, wenn die Plattform anständig läuft.

Fechtgeschichte: Swordsurfing.com soll über eine Fundraising-Kampagne finanziert werden. Wie stehen derzeit die Chancen, das Projekt auf diesem Wege zu realisieren?

Marcus Hampel: Gut! Das liegt daran, dass wir in Kürze damit beginnen werden, erste Schritte für das bereits gesammelte Geld zu gehen und damit zeigen können, was wir planen. Je konkreter es wird, desto höher wird die Spendenbereitschaft werden, da bin ich mir sicher. Mein großer Dank gebührt den Spendern, die bereits jetzt großes Vertrauen in meine Idee, mein Team und mich bewiesen und äußerst großzügig gespendet haben. Sie machen es möglich, dass ich so guter Dinge bin. Weiteren Spendern möchte ich einen kleinen Anhalt geben, was sie durch eine Spende ermöglichen. Eine Übernachtung in einer europäischen Großstadt kostet momentan minimal EUR 60,00. Die Vermittlung einer Übernachtungsmöglichkeit über Swordsurfing.com ist komplett gratis. Wenn die Idee wirklich gut ist und wirklich gebraucht wird, dann werden wir die rund 6.300 EUR für den Start und die 500,00 EUR für den jährlichen Betrieb zusammenbekommen. Da bin ich mir sicher."

Fechtgeschichte: Du erwähnst eine jährliche Finanzierung auf Spendenbasis. Ist für euch eine zukünftige Finanzierung des  Projektes auch über Werbung oder Sponsoring denkbar?

Marcus Hampel: Nein, es wird weder Sponsoring, noch gekaufte Werbeplätze geben, was zum Schluss sowieso das Gleiche ist. Erfahrungen, die ich bei der Suche nach Sponsoren für andere Projekte gemacht habe, zeigten mir, dass anfänglich immer alles ganz freundschaftlich und gönnerhaft betrachtet wird. Nach spätestens einem Jahr aber kommen doch Reichweitendiskussionen und “Return on Invest”-Themen auf den Tisch. Klar, diese kann man durch den Einsatz von Monitoringtechniken und gutem Controlling belegen. Aber mal ganz ehrlich, wird dadurch auch nur ein Schlafplatz für ein Training vermittelt? Wollen historische Fechter wirklich von ihrem Geld eine Controllingmaschine gefördert wissen? Ich glaube nicht. Vielmehr gibt es viele andere spannende Ideen, die durch den Paradigmenwechsel Web 2.0 möglich werden. Wenn man genau betrachtet, wer warum welches Interesse an der Plattform haben könnte, dann gibt es viel Stoff für weitere Ausbaustufen. Vereine, Schulen und Events und vielleicht sogar die Hersteller von Fechtmaterialien könnten eine Möglichkeit bekommen, mitzumachen. Auf “Mitmachen” liegt die Betonung. Und dann werden sie wie jeder Swordsurfer Zusprache, gute Bewertungen und Nachfrage erfahren können. Oder eben aber nicht, wenn ihre Angebote nicht in die Szene passen. Da ich fest glaube, dass die Zeit der einseitigen Kommunikation seit Web 2.0 vorbei ist, glaube ich auch, dass es bei Swordsurfing.com nur einen Kommunikationsweg, das Mitmachen, geben sollte. Es soll wie in unserem Hobby zugehen, das wir genau aus diesem Grunde auch so schätzen: Mit dem Schwert in der Hand sind alle gleich, man muss jeden Gegner ernst nehmen. Diejenigen, denen dies etwas wert ist, werden angemessen spenden, egal ob Person, Gruppe, Verein, Schule, Eventausrichter oder Hersteller. Da bin ich mir sicher.

Fechtgeschichte: Wo wird Swordsurfing.com in 3 Jahren stehen?

Marcus Hampel: In drei Jahren werden wir Swordsurfing.com zum einen technisch immer weiter ausgebaut haben. Schon jetzt haben wir rund ein Dutzend sehr guter Ideen in der Szene gesammelt, die wir noch umsetzen wollen. Das sind zum Teil echte Juwelen, die wirklich kein anderer Service bieten kann. Über Themen wie persönliche Sicherheit auf Reisen bis hin zu Vertrauenskonzepten und Anbindungen zu mobilen Geräten sind sehr spannende Dinge mit dabei. Wir selber haben eine Wunschliste von ebenfalls einem weiteren Dutzend abgesegneter Ideen. Ganz oben steht die Umsetzung meiner Erfahrungen, um den Komfort noch zu steigern. Zum anderen werden wir versuchen, Swordsurfing.com in eine Stiftung zu verwandeln. Swordsurfing.com wird dadurch eine eigenständige, juristische Person werden, die auch über das Leben der Gründer hinweg unabhängig bestehen bleiben wird. Swordsurfing.com ist nicht dazu gedacht, irgendjemanden reich zu machen, sondern soll unser Hobby, den Schwertkampf, optimal unterstützen. Austausch ist wichtig, um uns alle in unserem gemeinsamen Hobby voranzubringen. Darauf arbeite ich hin. Über den Start des Projektes hinaus möchte ich im Moment noch nicht langfristig weiterplanen. Denn erst einmal ist es wichtig, dass wir die nötigen Mittel für den ersten Schritt zusammen bekommen. Wenn alles gutgeht, dann können wir im Sommer 2013 weitere Schritte konkret bekannt geben.

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Montag, 29. Oktober 2012

"Persian Archery and Swordsmanship" - Ein Interview mit Dr. Manouchehr Moshtagh Khorasani zur Erforschung der historischen Kampf- und Kriegskünste des Iran

Dr. Manouchehr Moshtagh Khorasani ist Autor der Bücher 'Arms and Armor from Iran: The Bronze Age to the End of the Qajar Period‘, 'Oriental and Arab Antique Weapons and Armour: The Streshinskiy Collection' und 'Lexicon of Arms and Armor from Iran: A Study of Symbols and Terminology“. Im November erscheint sein neues Buch 'Persian Archery and Swordsmanship: Historical Martial Arts of Iran', in welchem er einen Einblick in die historischen Kampf- und Kriegskünste des persisch-iranischen Kulturraumes gibt. Fechtgeschichte hatte die Möglichkeit, im Vorfeld der Veröffentlichung mit ihm zu sprechen.

Fechtgeschichte: Herr Dr. Korashani, 'Persian Archery and Swordsmanship: Historical Martial Arts of Iran' ist Ihr erstes Buch zu den Kampf- und Bewegungskünsten des Iran selbst, nachdem Sie sich in Ihren vorangegangenen drei Werken mit der Waffen- und Rüstungskunde dieser Region befasst haben. Wie kam es zu diesem Schritt von der Erforschung von Waffen und Rüstungen hin zur  Erforschung deren Benutzung?

Manouchehr Moshtagh Khorasani: Als ich über Waffen und Rüstungen forschte, wollte ich auch die genauen metallurgischen Verfahren kennenlernen, mit denen Damaststahl hergestellt wird. Also begab ich mich in den Bibliotheken auf die Suche nach entsprechenden Manuskripten. In den Schriften, die ich fand, entdeckte ich Querverweise auf andere Handschriften, die davon berichteten, wie eine Waffe korrekt zu schärfen ist. Und in diesen Handschriften wiederum entdeckte ich weitere Querverweise, die mich schließlich zu Schriften führten, die erläutern, wie bestimmte Waffen im Kampf zu führen sind.

Fechtgeschichte: Wie sind Sie bei den Arbeiten zu Ihrem Buch vorgegangen?

Manouchehr Moshtagh Khorasani: Die iranische Kultur ist eine sehr reichhaltige Schriftkultur mit über einer Million Manuskripten zu Epik, Poesie, Philosophie, Naturwissenschaften, Medizin und mehr. Ein Fokus meiner Arbeiten für das Buch lag darauf, Kampf- und Schlachtfeldberichte aus Epik und Poesie und die Abertausende von Buchillustrationen zu sammeln und miteinander zu vergleichen. Ich habe mir Körper- und Waffenhaltungen und Treffer in Wort und Bild angesehen und detailliert analysiert. Es ging mir darum, die in Schlachtfeldberichten und Gedichten beschriebenen Handlungen mit den gemalten Buchminiaturen zu vergleichen und daraus Muster für Technikkomplexe abzuleiten. Hinzu kommen ab dem 14. und 15. Jahrhundert eine Vielzahl von Manuskripten mit detaillierten Anleitungen zu Kampftechniken für die unterschiedlichen Waffen. Als Beispiel sei hier das Buch von Ahmad Mehdi Hosseyni aus der Zeit von Šāh Esmā'il Safavid (1502-1524) genannt, dass den Kampf mit Speer, Schwert, das Ringen und Bogenschießen sowie den berittenen Kampf beschreibt. Wir können sagen, dass es für den iranischen Raum eine große Zahl an Schriftquellen gibt. Chronologisch gesehen hat man für die Bronzezeit (in Altpersisch) nur ein paar Steintafeln als Quellen, vom 2. v. Chr. bis zum 6. Jahrundert n. Chr. (in Mittelpersisch) schon gibt es einige mehr Quellen und ab dem 10. Jahrhundert (in Neupersisch) eine wachsende Zahl an Epen, Gedichten und Schlachtfeldbeschreibungen. Ab dem 14. und 15. bis zum 18. Jahrhundert finden wir dann auch Manuskripte mit detaillierten Anleitungen, und ab dem 19. Jahrhundert dann viele Bücher speziell über Feuerwaffen. Doch die Handschriften sind nicht alles. Es gibt weitere interessante Quellen, die ich während meiner Reisen in den Iran neben dem Quellenstudium in Bibliotheken und Museen ebenfalls erforscht habe. Dies sind zum einen die traditionellen Ringformen, dann das sogenannte 'Haus der Stärke‘ sowie einige besonders im Süden des Iran weitverbreiteten Waffentänze. Zu den traditionellen Ringformen lässt sich sagen, dass es im Iran 23 traditionelle Ringformen gibt, von denen sich einige bis ins 10. Jahrhundert zurückverfolgen lassen. Bei manchen dieser Formen sind ausschließlich Ring-, bei anderen daneben auch Fausttechniken erlaubt.  Das 'Haus der Stärke', das ebenfalls seit vielen Jahrhunderten bis in unsere heutige Zeit hinein existiert, ist ein Ort der physischen und spirituellen Stärkung. Hier trainierte die Jugend sich mit entsprechenden Trainingsgeräten für den Kampf und die Schlacht. Dort wurden auch Schwert- und Speerkampfübungen abgehalten, ehe sie im 19. Jahrhundert verboten wurden. Doch Reste davon sind als symbolische Trainingsformen auch in den Übungen mit Trainingsgeräten noch erhalten. Die ebenfalls von mir erwähnten Tänze werden vor allem im Süden des Iran bis heute gepflegt und meist mit Säbel und kleinem Schild oder zwei Säbeln aufgeführt.

Fechtgeschichte: In allen Himmelsrichtungen des Iran liegen andere große und kleine Reiche und Volksgruppen. Darüber hinaus forderten im Laufe der Geschichte unter anderem der Makedone Alexander mit seinem Heer, die Islamische Expansion und die Osmanen das Perserreich heraus. Wie schätzen Sie vor diesem Hintergrund den kulturellen Austausch auf dem Gebiet der Kampf- und Bewegungskünste ein?

Manouchehr Moshtagh Khorasani: Der Iran war immer ein Vielvölkerstaat. Man hat die Einflüsse anderer aufgenommen, aber auch immer die angrenzenden oder eindringenden Kulturen verändert.  Das spiegelt sich natürlich auch in der Vielfältigkeit der Kampfkünste wieder. Ich will dazu ein Beispiel aus dem Ringen geben. Im Norden des Iran ist das Schlagen mit den Fäusten ohne Schutz erlaubt, im Nordosten nicht. Dafür trugen die Kämpfer hier eine Art spezielle Ringerkleidung, ähnlich einem japanischen Gi. Im Süden gab es wieder andere Kampftechniken. Hier bewegte man sich sehr tief und kämpfte auch dementsprechend. Ein anderes Beispiel noch aus der Kriegstechnik. In der Konfrontation mit der gewaltigen Kriegsmaschinerie der Osmanen, die zu einem Großteil aus Artillerie bestand, setzten sich in den persischen Armeen im 15. und 16 Jahrhundert schrittweise die Feuerwaffen durch. Jedoch kann man für die Zeit vom 16. bis Anfang des 19. Jahrhunderts nach heutigen Kenntnisstand sagen, dass sich die Kampf- und Kriegstechniken nur wenig änderten, sondern relativ konstant blieben. Hier kann man gewisse Parallelen zum japanischen Kaiserreich der gleichen Zeitspanne feststellen, in dem Kriegs- und Kampfkünste auf ähnliche Weise über einen längeren Zeitraum relativ konstant überliefert wurden. Dies änderte sich im Iran erst im 19. Jahrhundert wieder, als mehr und mehr europäische Militärberater ins Land kamen. Man muss aber beachten, dass die ersten europäischen Militärberater bereits während der Periode von Shah Abbas Safavid (1571 – 1629) in den Iran kamen.

Fechtgeschichte: Kapitel 2 Ihres Buches trägt den Titel „THE SACRED WEAPON: ARCHERY IN IRAN”. Warum wählten Sie diese Überschrift?

Manouchehr Moshtagh Khorasani: Dem Bogen kommt innerhalb der iranischen Kriegerkultur eine herausragende Stellung zu. Dies wird allein schon deutlich an der Anzahl der erhaltenen Manuskripte. Über das Bogenschießen sind wesentlich mehr Manuskripte erhalten als über jede andere Waffe des persischen Raumes. Derzeit kennen wir 22 Handschriften, manche von ihnen sind 100 Seiten stark. Allesamt sind sie überaus detailliert ausgearbeitet und beschreiben von der Ausrüstung wie Daumenschutz und unterschiedliche Pfeilsorten über Auszugtechniken bis zu Trefferzonen und dem Schuss vom Pferderücken aus so gut wie jeden Aspekt des Bogenschießens. Die Techniken unterscheiden sich teilweise von Handschrift zu Handschrift. Viele der Autoren haben eigene Techniken, die man ausschließlich bei ihnen findet. Die Vielzahl der Quellen zum Bogenschießen lässt sich mit Rückgriff auf den kulturell-mythologischen Hintergrund erklären. In der Mythologie wie auch der Frühgeschichte des Iran nahm der Bogen immer eine Sonderrolle ein. Er war die Waffe von Göttern und Helden der iranischen Mythologie und damit immer auch ein Symbol der Herrschaft. Zum Beispiel ist der mythologische Held Ārasch mit dem Bogen bewaffnet, und die Perserkönige der Archämeniden und Parther wurden auf Münzen immer mit einem Bogen in der Hand abgebildet.

Fechtgeschichte: Vielleicht noch stärker als den Bogen verknüpft man das Ringen mit der persisch-iranischen Kultur. Zufällig unterhielt ich mich erst neulich mit einem Iraner, der mir dies wie selbstverständlich bestätigte, indem er sagte: „Ja, wir Iraner werden in Sachen Sport von der ganzen Welt vor allem als Ringer wahrgenommen.“ Welchen Stellenwert hat das Ringen in der heutigen und in der historischen iranischen Kampfkunst?

Manouchehr Moshtagh Khorasani: Das Ringen genießt sowohl heute wie auch in der Historie sehr hohes Ansehen. Noch heute werden nach meinen Forschungen 23 traditionelle Ringstile im Iran gepflegt, von denen manche viele hundert Jahre in die Vergangenheit zurückreichen. In den historischen Kampfkünsten ist das Ringen ein integraler Bestandteil. Das Ringen ist zum einen eine eigene Disziplin und findet in sportlichem Wettkampf und Krieg seine Anwendung. Drei überaus bedeutende Handschriften zur Ringkampfkunst des Iran bespreche ich in meinem Buch. Die Handschrift von Šarif Mohammad, dem Sohn von Ahmad Mehdi Hosseyni aus der Zeit von Šāh Esmā'il Safavid enthält 43 Techniken, die Handschrift des Tumār-e Puryā-ye Vali zählt 47 Techniken und die Handschrift Masnavi-ye Golkošti-ye Mirnejāt beinhaltet 35 Techniken, die bemerkenswerterweise in Form eines Gedichtes vermittelt werden. Doch auch im Waffenkampf ist das Ringen ein fester Bestandteil. Aus einer weiten Distanz arbeiteten sich die Kämpfer mit ihren Waffen in eine mittlere Distanz vor. Von dort aus können sie jetzt ihren Gegner mit der Waffe töten oder einen Eingang ins Ringen suchen. Ein gutes Beispiel dafür, dass das Ringen im Kampf immer eine Option ist, ist die Konstruktion eines typischen persischen Schildes. Dieser Schild, aus Büffel- oder Nashornhaut und teilweise aus Stahl bestehend, wird auf eine spezielle Art gehalten, so dass man den Schild drehen und mit der Schildhand die Waffenhand des Gegners greifen kann. In dieser Situation kann der Gegner, da seine Waffenhand fixiert ist, mit der Waffe angegriffen oder geworfen werden.

Fechtgeschichte: Das Buch von Ahmad Mehdi Hosseyni aus der Zeit von Šāh Esmā'il Safavid (1502-1524), von dem Sie weiter oben bereits sprachen, ist ein sehr umfangreiches Manuskript. Es behandelt den Kampf mit Speer, Schwert, das Ringen und Bogenschießen sowie den berittenen Kampf. Können Sie unseren Lesern etwas mehr über Geschichte, Inhalt und Struktur des Werkes erzählen?

Manouchehr Moshtagh Khorasani: Ahmad Mehdi Hosseyni bekam den Auftrag, für seinen Herrn ein Buch zu schreiben, dass ausführlich darstellt, wie man mit welcher Waffe kämpfen sollte. Es enthält sowohl Anweisungen zur Waffenpflege wie z.b. das Schärfen der Waffen, als auch detaillierte Kampftechniken. Zu den Kampftechniken zählen 43 Stücke aus dem Ringen, 40 Stücke aus dem Speerkampf, außerdem Anweisungen zum berittenen Kampf und zum Bogenschießen. Das Manuskript enthält auch einen Teil zum Schwert. Interessanterweise steht darin nur geschrieben, wie man das Schwert schärft, nicht aber wie man damit kämpft. Ich gehe davon aus, dass Teile des Manuskripts verloren gegangen sind, denn für die Lanze zum Beispiel schreibt Ahmad Mehdi Hosseyni sowohl zum Schärfen wie auch zum Kämpfen. Wenn die Handschrift wirklich unvollständig ist, dann hoffe ich, dass wir irgendwann in einer Bibliothek eine vollständige Abschrift des Werkes finden werden, die auch den Teil zum Schwertkampf enthält.

Fechtgeschichte: Sie sagen,  Ahmad Mehdi Hosseyni bekam den Auftrag, für seinen Herrn ein Buch über Kampftechniken zu verfassen. Was ist über ihn sonst bekannt? Was ist über die Autoren anderer Schriftquellen bekannt? Und kann man aus den Quellen erkennen, welchen sozialen Status die Autoren innehatten?

Manouchehr Moshtagh Khorasani: Leider wissen wir nicht sehr viel mehr über die Entstehungsgeschichte des Werkes und den Autor Ahmad Mehdi Hosseyni. Es ist nur bekannt, dass er ein Mitglied der Armee war und das Buch  für die Spezialeinheiten des Šāh geschrieben hat. Über einen anderen Autor, der damit beauftragt wurde, eine Bogenhandschrift anzufertigen, besitzen wir ebenfalls ein paar Informationen. Sein Vater war ein Philosoph, er selbst war Ausbilder für das Bogenschießen. Bei vielen der übrigen Handschriften ist leider oft nicht einmal der Autor klar. Das ändert sich erst im 18. und 19. Jahrhundert mit den Büchern über das  Vorderladerschießen. Hier sind die Autoren gut bekannt, und meist sogar, in welchem Regiment sie dienten.

Fechtgeschichte: Waren die Kampfkünste, die Sie in ihrem Buch untersuchen, ausschließlich für den Krieg gedacht oder gab es auch zivile Kampfkünste?

Manouchehr Moshtagh Khorasani: Viele der von mir untersuchten Quellen deuten auf einen überwiegend militärischen Gebrauch der Kampfkünste hin. Es waren für den Krieg trainierte Kampftechniken. Als eine zivile Kampfkunst würde ich aber auf jeden Fall das Ringen bezeichnen, und zwar dann, wenn es in Form von Wettkampfsport ausgeübt wurde. Außerdem sind für das 18. und 19. Jahrhundert zwei- und ein einschneidige Kurzschwerter belegbar mit Namen „Qama” und „Qaddare”. Diese werden ohne Schild geführt, was auf eine zivile Trageweise hindeutet, da sonst jede Waffe im militärischen Kontext nur zusammen mit Schild genutzt wurde. Wenn es vor dieser Zeit noch andere Waffen für eine zivile Kampfkunst gegeben haben sollte, dann sind diese im im Moment nicht belegbar.

Fechtgeschichte: Zum Abschluss noch die Frage: Haben Sie bereits Pläne für ein neues Buch?

Manouchehr Moshtagh Khorasani: Ja, ich arbeite bereits an einem Buch über persische Vorderladerfeuerwaffen. Außerdem wird bald ein Buch über das persische Bogenschießen folgen, das 26 aus dem persischen übersetzte Manuskripte beinhalten wird. Auch zum berittenen Kampf plane ich eine Publikation. Wir müssen immer weiter forschen, denn wir stehen erst ganz am Anfang.

Fechtgeschichte: Viel Erfolg bei ihrer weiteren Arbeit und vielen Dank für das Interview.


Das Buch 'Persian Archery and Swordsmanship: Historical Martial Arts of Iran' erscheint im November 2012 bei Niloufar Books.


Buchcover


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Mehr zu Manouchehr Moshtagh Khorasani, seinen Büchern und seiner Arbeit

Montag, 20. August 2012

"Heraus aus dem Schattendasein der Archive" - Ein Interview mit Andreas Meier über Fechtbücher, deren Transkription und die 'Gesellschaft für Pragmatische Schriftlichkeit'

Andreas Meier beschäftigt sich seit mittlerweile mehr als 20 Jahren mit der Erschließung und Erforschung historischer europäischer Fecht- und Fachbücher. Er ist außerdem Mitglied der 'Gesellschaft für Pragmatische Schriftlichkeit', die es sich zur Aufgabe gemacht hat,  die mittelalterliche Fachliteratur (= pragmatische Schriftlichkeit) aus ihrem "Schattendasein der Archive" zu befreien. Fechtgeschichte sprach mit ihm.

Fechtgeschichte: Hallo Andreas. Wir haben nicht schlecht gestaunt, als wir im Vorfeld zu diesem Interview erfuhren, dass du dich persönlich bereits seit 1990 mit Fechthandschriften beschäftigst. Wie bist du seinerzeit dazu gekommen?

Andreas Meier: Hallo. Nun wie kommt man zu so einer Leidenschaft? Zum einen war mein Interesse für Geschichte schon immer sehr ausgeprägt. Hinzu kam meine Vorliebe für Kampfkünste. Irgendwann stellte ich mir die Frage, ob es bei uns eine hochentwickelte Kampf- und Fechtweise gab und so machte ich mich auf die Suche. Ernsthaft wurde es im Jahr 1992, mit dem Kauf des Buches von Hans-Peter Hills „Meister Johann Lichtenauers Kunst des langen Schwertes“ (Anm. d. Red.: Hans-Peter Hils: Meister Johann Liechtenauers Kunst des langen Schwertes, Frankfurt a.M./Bern/New York 1985).

Fechtgeschichte: Ein wichtiges Element der Fechtbuchforschung ist die Transkription jener alten Texte. Kannst du unseren  Lesern kurz umreißen, was eine  Transkription eigentlich ist und was sie beinhaltet?

Andreas Meier: Das ist einfach erklärt. Eine Transkription ist das Übertragen einer alten Schrift in unsere heute verwendete Schrift. Darüber hinaus werden bei einer Transkription auch andere Texterscheinungen beschrieben. Das können z. B. Beschädigungen des Papiers sein oder Abkürzungen, die heute nicht mehr bekannt sind. Auch werden heute nicht mehr verwendete Ortsnamen, Maßeinheiten, Abkürzungen, Worte in einem Anhang oder in einer Fußnote erklärt. Für gewöhnlich wird der Transkription auch eine Beschreibung der Handschrift vorangestellt, in der man alles Wissenswerte zum Autor, der Handschrift selbst, der Schrift usw. aufführt. Wichtig für andere Bearbeiter ist es, dass man seine Regeln, die man für die Transkription angewandt hat, mit angibt.

Fechtgeschichte: Blicken wir noch einmal in deine Vergangenheit. Was war dein erstes Transkriptions-Projekt?

Andreas Meier: Mein erstes wirkliches, also auf wissenschaftlicher Grundlage basierendes  Transkriptions-Projekt, war die Handschrift ms.germ.quart 16 „Gladiatoria“. Sie wird aufbewahrt in der Jagellonischen  Bibliothek von Krakau.

Fechtgeschichte: Warum wähltest du die ms.germ.quart 16 „Gladiatoria“?

Andreas Meier: Da muss ich etwas ausholen. Im Jahr 2002/03 startete der erste Unterricht "Seminar Fechtbücher - Sprache, Paläographie, Handschriftenpraxis", den ich zusammen mit Frau Freundl, einer ehemaligen Mitarbeiterin der Bayerischen Staatsbibliothek organisiert habe. Im Verlauf der Lektionen keimte die Idee, dass Erlernte gleich in einer Transkription umzusetzen. Nach einigem Überlegen entschieden wir uns für die „Gladiatoria“, da sie uns als digitale Kopie vorlag und der Text von einem professionellen Schreiber stammt und daher gut lesbar war.

Fechtgeschichte: Welche Erfahrungen konntet ihr aus dieser ersten Transkription für euch mitnehmen?

Andreas Meier: Das waren eine ganze Menge. Wichtig war unter anderem, dass wir erfahren haben, wo man Informationen zu einer Handschrift bekommen kann und welche Lexika und Wörterbücher hilfreich sind zum Textverständnis. Auch mussten wir lernen, dass eine gute Koordination unerlässlich ist, wenn man mit mehreren Personen an einem Dokument arbeitet. Da haben wir doch einiges durch zeitlichen Mehraufwand ausgleichen müssen.

Fechtgeschichte: Wenn du dir ein neues Transkriptions-Projekt vornimmst, womit beginnst du deine Arbeit?

Andreas Meier: Zunächst gilt es eine Handschrift ausfindig zu machen. Dieser Schritt, Heuristik genannt, ist dank den Arbeiten von Herrn Wirschin (Anm. d. Red.: Martin Wierschin, Meister Johann Liechtenauers Kunst des Fechtens. München, 1965) und Herrn Hills (Anm.: s. o.) glücklicherweise sehr vereinfacht worden. Sie führen in Ihren Katalogen die meisten bekannten Handschriften zu diesem Thema auf. Die Auswahl hängt von meiner Vorliebe ab. Entscheidend ist natürlich auch, ob bereits eine gute Transkription/Edition vorliegt. Anschließend trage ich alles zusammen, was über die Handschrift und den Autor bereits bekannt und veröffentlicht ist. Dies können Aufsätze, Abhandlungen in Fachbüchern, Handschriftenkataloge, Archivdokumente, Steuerlisten und vieles mehr sein. Handelt es sich um mehrere Handschriften eines Autors, wird nun eine Leithandschrift für die Transkription ausgewählt. Anhand dieser beginne ich mit der Transkription und gleiche Sie, vereinfacht ausgedrückt, mit den anderen Handschriften des Autors ab.

Fechtgeschichte: Auf welche Besonderheiten - und möglicherweise auch Probleme - wird man bei der Transkription eines Textes aus dem 15. oder 16. Jahrhundert treffen?

Andreas Meier: Zunächst hat man es mit den Eigenarten des Schreibers zu tun. Die Bandbreite reicht von sehr gut leserlichen Handschriften bis zu grausig hingeschmierten Texten, die eine echte Herausforderung darstellen. Hierzu fällt mir insbesondere die Handschrift von Hans Folz Q566 der Herzog Anna Amalia Bibliothek ein. Bei Texten des Spätmittelalters stellt sich das Problem, dass es damals keine Vereinheitlichung der Rechtschreibung und der Grammatik gab. Eine Interpunktion war mehr oder weniger unbekannt, Groß- und Kleinschreibung oft sehr schwer zu ermitteln und wurde ohne eine zu Grunde liegende  Regel eingesetzt. Es kommt immer wieder vor, dass dasselbe Wort in einem Satz verschieden geschrieben wurde. Kurz gesagt, man schrieb wie man sprach. Das aber lässt Rückschlüsse auf die Herkunft der Handschrift zu, da man den Dialekt gut einordnen kann. Auch wird man sehr bald bemerken, dass oft mit Abbreviaturen, also Auslassungszeichen, gearbeitet wurde. Hierbei kürzt der Schreiber Buchstaben mit bestimmten Zeichen ab. Es gibt natürlich noch viel mehr Besonderheiten, die aber weit über den Rahmen dieses Interviews hinausgehen würden. Ich gebe jedoch sehr gerne Hilfestellung, wenn jemand Fragen zu bestimmten Texterscheinungen hat.

Fechtgeschichte: Du bist auch ein Mitglied der 'Gesellschaft  für Pragmatische Schriftlichkeit'. Erzähle unseren Lesern doch bitte ein wenig mehr von eurer Gruppe.

Andreas Meier: Im Jahr 2002/03 organisierte ich den anfangs bereits erwähnten Unterricht. Es nahmen acht Personen an den insgesamt zwei halbjährigen Blöcken teil. Während des Unterrichtes keimte die Idee auf, eine Plattform zum Veröffentlichen unserer Arbeit und der anderer Autoren ins Leben zu rufen. Da die Fechthandschriften zu dem Komplex der Pragmatischen Schriften zählen, kam es, dass wir uns den Namen 'Gesellschaft für pragmatische Schriftlichkeit' gaben. Von den ursprünglich acht Personen sind heute noch vier aktiv tätig. Erfreulicherweise konnten wir auch andere Forscher, wie z. B.  Herrn Dupuis (Anm.d.Red.: HEMA-Mitglied aus Frankreich), für unsere Projekte gewinnen. Grundsätzlich kann jeder, der seine Transkription auf einer wissenschaftlichen Basis erstellt, seine Arbeit bei uns veröffentlichen.

Fechtgeschichte: Die 'Gesellschaft  für Pragmatische Schriftlichkeit' hat bereits acht Handschriften des 15. und 16. Jahrhunderts transkribiert. Kannst du bitte ein Projekt davon auswählen und an diesem eure Arbeitsweise etwas näher erläutern?

Andreas Meier: Genaugenommen haben wir sogar 12 Handschriften bearbeitet. Sieben davon als Transkription und eine als Edition. Bei der Edition handelte es sich um das Werk von Paulus Kal, das alle seine bekannten Handschriften umfasste. Insgesamt waren es fünf Stück, die wir im Zuge der Arbeit transkribiert haben. Nehmen wir doch auch gleich mein Lieblingsprojekt, den Paulus Kal, um unsere Arbeitsweise zu erläutern. Bei diesem Projekt haben wir mit vier Personen gearbeitet. Die Handschriften wurden aufgeteilt und nach vorher festgelegten Transkriptions-Richtlinien bearbeitet. In einem Masterdokument wurden dann die Ergebnisse jedes einzelnen zusammengeführt. Anschließend kam die wichtigste, aber zugleich auch anstrengendste Arbeit: das Korrekturlesen. Jeder der Mitwirkenden las die gesamte Transkription und korrigierte Fehler. Schwierige Textstellen wurden in gemeinsamen Treffen erörtert. Insgesamt wurde dieses Korrekturlesen fünfmal wiederholt. Zeitgleich begann die Arbeit an dem Vorwort und der Beschreibung der Handschriften. Mühsam gestaltete sich hierbei die Kommunikation mit der Universität in Bologna. Die Antworten auf meine Anfragen kamen grundsätzlich in Italienisch zurück, aber auch das konnten wir lösen. Bei dieser Edition konnten wir erstmals alles nutzen, was wir seinerzeit bei Frau Freundl gelernt hatten: die Erstellung eines textkritischen  Apparats zum Beispiel, oder aber Rückschlüsse auf einen Archetyp zu ziehen, um nur einiges zu nennen.

Fechtgeschichte: Auf welche Weise werden die abgeschlossenen Projekte veröffentlicht?

Andreas Meier: Zumeist stellen wir die Arbeiten kostenfrei auf unserer Hompage zur Verfügung. Einige Arbeiten sind auch als Buch oder in Form eines Aufsatzes veröffentlicht worden.

Fechtgeschichte: Auch im Moment wird bei der 'Pragmatischen Schriftlichkeit' an einigen Projekten gearbeitet. Kannst du über diese Projekte bitte etwas mehr erzählen?

Andreas Meier: Da bei uns jeder eigenverantwortlich an seinen Projekten arbeitet,  kann ich zu den Arbeiten meiner Kollegen nicht allzu viel sagen. Die Transkription zu der Handschrift des Juden Lew Cod.I.6.40.3 aus der Universitätsbibliothek Augsburg ist beinahe abgeschlossen, hier habe ich Herrn Brunner (Anm.d.Red.: Mitglied der "Pragmatischen Schriftlichkeit") mit Korrekturlesen unterstützen können. Der Stand zu den Arbeiten des Roßarzneibuch cpg406 aus der Universitätsbibliothek Heidelberg sowie des Kriegsbuches Cod.3069 aus der Österreichischen Nationalbibliothek entziehen sich meiner Kenntnis, da Herr Brunner diese bearbeitet. Die Transkription zu Jörg Wilhalm ist ebenfalls in Arbeit, aber zurzeit etwas ins Stocken geraten. Ich selbst suche momentan jemanden, der mir bei der Bearbeitung eines Lateinischen Textes helfen kann.

Fechtgeschichte: Kannst du uns verraten, um was für einen lateinischen Text es sich dabei handelt?

Andreas Meier: Da hab ich mich jetzt aber etwas verplappert. Ich möchte noch etwas hinterm Berg halten, da der Text weitgehend unbekannt ist. Aber so viel sei gesagt, dass es sich um eine Fechthandschrift aus den 16 Jhd. handelt, die aus dem deutschsprachigen Raum stammt. Sobald ich jemanden habe, der mir damit helfen kann, werde ich eine Ankündigung auf unserer Seite machen.

Fechtgeschichte: Wir sind sehr gespannt auf die Ankündigung und werden die Seite der 'Pragmatischen Schriftlichkeit' aufmerksam verfolgen. Doch jetzt erst einmal zu etwas anderem. Du hältst auch Vorträge über die Transkription alter Texte. Wie baust du diese Vorträge auf?

Andreas Meier: Der Vortrag ist in folgende Bereiche unterteilt: Heuristik, Lesen und Entziffern von Texten, Transkription und Editionspraxis sowie Handschriftenbeschreibung. Der gesamte Vortrag dauert ca. 6-7 Stunden (mit Übungen zum Lesen und Entziffern). Sinnvollerweise teile ich das auf zwei Tage auf, da so viel Theorie doch sehr anstrengend ist.

Fechtgeschichte: Welche Fragen werden dir bei deinen Vorträgen besonders häufig gestellt?

Andreas Meier: Die meisten Fragen werden zu den Komplexen 'Lesen und Entziffern' gestellt. Hier geht es meist darum, wie bestimmte Worte oder Buchstaben übertragen werden. Aber gleichermaßen gibt es auch zu Groß- und Kleinschreibung und Interpunktion häufig Fragen.

Fechtgeschichte: Welchen Tipp würdest du einem Anfänger mit auf dem Weg geben, der seine erste Transkription anfertigen möchte?

Andreas Meier: Zuerst sollte er sich mit der Schrift des gewählten Zeitabschnittes vertraut machen. Das ist sozusagen das Grundgerüst, auf dem er aufbauen kann. Auch sollte er darauf achten, alle recherchierten Fakten gut zu dokumentieren. Dieser Punkt ist nicht zu unterschätzen, denn man glaubt Anfangs gar nicht, wie schwierig es ist, bei den vielen Fundstücken, Lebensdaten und Textbelegen zum Text und oder dem Autor den Überblick zu behalten.

Fechtgeschichte: Und zu guter Letzt: Du beschäftigst dich seit mehr als 20 Jahren mit alten Handschriften. Gab es auch mal Zeiten, an denen du Abbreviaturen, Majuskeln, Minuskeln und dergleichen einfach mal nicht mehr sehen konntest?

Andreas Meier: Das könnte man vermuten, aber das Interesse an den Fechthandschriften ist einfach zu groß, als dass es mir langweilig wird. Einzig das Korrekturlesen stellt mich ab und an auf eine harte Probe.

Fechtgeschichte: Vielen Dank für dieses ausführliche Interview.

Weitere Informationen:




Donnerstag, 26. Juli 2012

'Gründtliche Beschreibung der freyen ritterlichen unnd adelichen Kunst des Fechtens' - Eindrücke aus Leipzig

Unser Leser Cornelius Berthold von den Blossfechtern zu Chemnitz hatte vor kurzem die Gelegenheit, sich den Leipziger ‘Joachim Meyer’ (Bibliotheca Albertina- Sondersammlung, Signatur Milit. 111, veröffentlicht in Straßburg bei Thomas Berger, 1570) vor Ort in der Leipziger Universitätsbibliothek näher anzusehen. 

Hier seine Eindrücke:
Während es inhaltlich keine Überraschung gab, zeigte sich die Form sehr  bedeutsam. Sämtliche Abbildungen sind nachträglich aufwändig illuminiert worden. Der Arbeitsauftrag und Preis pro "Figur" (vermutlich 2 Thaler pro Stück, aber dieser Eintrag war kaum zu entziffern) steht im vorderen Innenspiegel des Einbandes. Dieser Eintrag ist laut Bibliotheksmitarbeiter nicht älter als das 17. Jahrhundert, womöglich näher dran am Erscheinungsjahr 1570. Weiter oben im Innenspiegel steht die Jahreszahl 1574, ein abgekürzter (Leit-?) Spruch "L. (oder T?) W. D. G. M. F." sowie der Name "Dietrich Görge Bricke (?) von D(unleserlich/ausgekratzt)", gefolgt von einem Gedicht: "O du edler greiff, schwing auf die feder und gefieder, las ?ierg die Bruderschafft (?) von dank ajanx (??) mit druckem nieder, und stos ihn in den rachen, das im d[as?] Herz im leibe thet krarsten (??, sieht nicht nach "barsten" aus, aber "krachen" ist es mMn nicht)".

Davon abgesehen besitzt das ganze Buch kleine eingeklebte Registerzettelchen am Rand, die mit den Buchstaben der zugehörigen Figuren beschriftet sind (alle bis auf die letzten zwei). Wenn Meyer also eine "Figur G" erwähnt, greift man sich das Zettelchen mit G, schlägt es nach links um und schon hat man die illuminierte Figur. Wenn andere Meyer-Ausgaben nicht auch vier Schließbeschläge dran hatten, dann wäre das ein weiteres "Alleinstellungsmerkmal" der Leipziger Ausgabe und ihrer Gebrauchsspuren.


Dienstag, 24. Juli 2012

Von einigen Exercitien und der Geschichte des Duells - Auszüge aus Johann Friedrich von Flemmings 'Vollkommenem Teutschen Soldaten' von 1726

Im Jahr 1726 veröffentlichte Johann Friedrich von Flemming sein Werk 'Der Vollkommene Teutsche Soldat' [Digitalisat]. (1) Das mehr als 800 Seiten umfassende Buch enthält eine Vielzahl theoretischen und praktischen Wissens zum Militärwesen. Es beginnt mit Erörterungen zu den grundlegenden Fertigkeiten wie dem Schreiben, Rechnen, Lesen und Zeichnen (im ersten Teil) und reicht bis hin zur komplexen Fortifikations- und Belagerungs-Theorie (im fünften und sechsten Teil).

Johann Friedrich von Flemming untergliederte sein Werk in 6 Teile und einen Anhang:
Erster Theil, Von dene Vorbereitungs=Wisenschaften zum Kriegs=Wesen.
Anderer Theil. Von denen unterschiedenen Functionen der Soldaten.
Dritter Theil. Von denen mancherley Krieges=Operationen und Expeditionen.
Vierter Theil. Von Besorgung einer Festung zu Friedens=Zeiten.
Fünffter Theil. Von der Beschützung einer Festung, wider die feindlichen Angriffe und Belagerungen.
Sechster Theil. Von Belagerung und Eroberung einer Festung.
Anhang

Der vorliegende Artikel konzentriert sich auf das Kapitel zu 'Musique, Tantzen, Fechten und Voltigiren' (Theil 1, Kapitel 8, Seite 22-24) und das Kapitel zu den 'Duellen' (Anhang, 3. Kapitel, Seite 723-729), die im Folgenden nach jeweils einer kurzen Einleitung als Transkriptionen wiedergegeben werden.

Das Fechten, das in Kapitel 8 behandelt wird, ist textlich eingebettet in das umfassendere Curriculums der Exercitien "Musique, Tantzen, Fechten und Voltigiren". Da Flemmings Werk den Schwerpunkt klar auf die theoretischen und praktischen Aspekte des Militärwesen – und da vor allem auf Militärstruktur, Ausbildung, Taktik und Fortification – legt, werden die Exercitia als Grundsteine der allgemeinen Ausbildung zwar erwähnt, jedoch nur in aller notwendigen Kürze beschrieben. Die Fechtkunst, noch eines der umfangreichsten Themen in diesem kurzen Kapitel, wird beschrieben mit den für die Zeit gängigen Bewegungen und Begriffen. Anders jedoch als in anderen Wissensspeichern für die oberen Gesellschaftsschichten dieser Zeit, wie etwa „Der geöffnete Ritterplatz“ von 1706 (veröffentl. in Hamburg bei Schiller und Hamburg bei Neumann), erfolgt keine ausführliche Beschreibung oder Darstellung der Fechttechniken. Auch ein Lehrer oder Meister wird namentlich nicht genannt.
"Das achte Capitel. Von der Musique, Tantzen, Fechten und Voltigiren.

§.1. Die heutige galante Welt verlanget viel von einem jungen Menschen, den die qualificirt nennen soll; Er muß nicht allein in Wissenschafften, und guten Künsten, sondern auch in allerhand Exercitien und Leibes Ubungen versiret seyn. Die Musique ist etwas angenehmes und bey Kriegs- und Friedens-Zeiten, zur Trauer, und bey fröhlichen Begebenheiten zu gebrauchen. Sie ermuntert das betrübte und unruhige Gemüth, sie hilfft die Freude vermehren, muß auch andere zur Fröhlichkeit aufmuntern. Der die Musique und den Tact verstehet, kan sich auch in den Tantzen bey Haltung der Cadance u.s.w. viel eher perfectioniren. Doch muß ein junger Mensch auch nicht allzuviel Zeit auf die Musique wenden, damit nicht aus dem Nebenwerck ein Hauptwerck werde, und man die Zeit, die man zu andern Sachen nützlicher anwenden könte, nicht damit zubringe. Es muß einer diejenigen Instrumenta erwehlen, dazu er Neigung hat, und die sich zu der Lebens-Art, die einer in der künfftigen zu erwehlen gedencket, schicken. Die Trompeten, Hautbois, und andere dergleichen die einen allzugrossen Allarm machen, sind dem Kopf, und der Gesundheit nicht allzu zuträglich, sie nehmen die Lunge mit, und machen das Gesicht ungestalt, die Backen und die Augen werden aufgeblasen; Eine Fleute douce, eine Violine, Laute, Guitarr, Viole d'Armour, Viole de Gamba, und andere dergleichen sind besser und beliebter.

§.2. Das Tantzen, ob es gleich von den meisten heutiges gemißbrauchet wird, ist dennoch nicht zu verabsäumen, es macht die Glieder geschickt, daß man hernach bey einer guten Stellung, des Leibes mancherley Handlungen eine bessere Grace geben kan. Ein Tantzmeister muß bey einem jungen Menschen sonderlich dahin seyn, damit er lerne die Beine auswerts setzen, gerade gehen, die Brust auswerts tragen, und geschickte Reverences machen. Man hat nicht alle Tage Gelegenheit zum Tantzen, aber wohl zum Reverences machen. Bey den Tantzen muß man sonderlich lernen auf die Cadence Achtung haben, und sich der Sittsamkeit befleißigen, denn die mancherley Capriolen, und Lufft-Sprünge stehn nicht allen Leuten an; Es würde mancher zierlicher Tantzen, wenn er nicht mit den Kopf und Händen, so viel wunderliche und unnöthige Bewegungen, und so viel krumme Sprünge machte.

§.3. Es ist unnöthig, daß ein junger Mensch so viel Solo, und allerhand fremde Täntze, die etwan nur bey Opern oder sonst vorkommen, lernet und Zeit und Geld damit verderbet, es wäre denn, daß einer von Tantzen Profession machen wolte, sondern es ist genung, wenn er eine Menuet, eine Courante, eine Menuet d'Anjou, eine Passepeid, und eine Aimable Vainqueur tantzen kan. Die Menuets sind unter allen die gewöhnlichsten Täntze, die so wohl an den Höfen der grossen Herrn, als auch bey den Lustbarkeiten unter Privat-Persohnen am allermeisten vorkommen. Nach diesen sind die Englischen Täntze ziemlich Mode, und wer Gelegenheit hat solche zu lernen, thut nicht unrecht, wenn er sich mit darauf applicirt. Bey den Tantzen muß man die beyden Extremen vermeiden, man muß nicht allzu furchtsam und schüchtern, und auch nicht allzu frech und wilde dabey seyn: Einige sind so furchtsam und schleichen so sachte herum, als ob sie auf Eyern giengen, die sie nicht zutreten solten, andere aber machen hundert tausenderley wilde Minen und Fahrten, wie die Marckschreyer auf den Theatro.

§.4. Ist der Leib durch das Tantzen zu einer geschickten Übung gekommen, so kan man nachgehends zu einer etwas stärckeren Motion, nemlich zu den Fechten schreiten. Dieses ist schon etwas martialisches, und kan man hiermit bey feindlichen Attaquen seinen Leib beschützen, sich in der Noth retten, und seinem Feind dasjenige zu versetzen, was er einen zu thun willens war. Der Fechtmeister weiset einen Anfänger erstlich das Rappier wohl halten, daß der Daumen hinunter den Sticblatt auf das Creutz der Parir-Stange feste gesetzt werde, des Rappiers-Knopf aber hinter der Hand aufliege. Er weiset ihn ferner die Füße recht zu setzen, die Arme zuhalten, mit Schenckeln und Leibe die rechte Positur zumachen, und ein gutes Lager sich anzugewöhnen. Der Fechtmeister hat einen ledernen wohl ausgestopften Schild vor der Brust, und der Scholar muß weidlich auf ihm zustossen, um sich wohl ausstrecken zu lernen. Der Fechtmeister ziehet das Rappier des Scholaren an sich, damit er sich zu einen desto reineren Stoß angewöhne. Er lehret ihn die Primam, und wann er solche wohl begriffen, die Secundam, wenn auch diese recht gelernet, endlich die Tertiam, und Quartam stossen, und einen gleichen Stoß führen.

§.5. Das Contra Fechten mit andern Scholaren ist unter zwey bis drey Monaten nicht zu practiciren, denn die andern sind ungewiß, und können einen Anfänger, theils aus Unwissenheit, theils aus Leichtfertigkeit solche Stöße anbringen, die ihm ziemlicher massen incommodiren. Eine andere Bewandniß hat es bey denen Contra Fechten mit dem Lehrmeister, oder Vorfechter, als welche schon sicherer und gewisser halten. Hat einer aber 5. biß 6. Monate gefochten, und um einen guten Recompens sich von den Fechtmeister privatim einige gute Lectiones zeigen lassen, so kan er das Contra Fechten schon vornehmen.

§.6. Bey den Fechten muß man sich lernen wohl strecken, ein gutes Lager machen, den Gegner an der Klinge bleiben, dieselbe wohl stringiren, die Mensur und das Tempo beobachten, bey der leisesten Berührung der Klinge caviren, geschickt pariren, nach angebrachten Stoß mit einen oder zwey zwey Sprüngen sich hurtig in der Defension retirien. Die mancherley gekünstelten Volten, Stocaden, Prisen, Passaden und dergleichen werden zwar auf den Fecht-Böden gelernet, schicken sich aber in geringten nicht zum Ernst.

§.7. Ein junger Mensch muß sich des Fechtens zur Vertheidigung seiner Ehre, seines Vermögens und seines Leibes bedienen, aber nicht unnöthige Händel, die offtermahls bey einen Bier- und Wein-Gelack um ein Charten Blatt oder eine Hure angefangen werden, zu erregen. Es ist das Duellirenein sehr schändliches Laster, so in allen Königlichen, Churfürstlichen und Fürstlichen Mandaten hoch verpönt ist. Es hat mancher zu Haus so eine unmäßige und unzeitige Courage, und hingegentheils, wenn er wieder den Feind anrücken soll, zittert er doch wohl wie ein Espen Laub. Es kommen auch gemeiniglich diejenigen, die andere zum besten haben und Händel erregen wollen, wenn es zum Duelliren kömmt, am hetzlichsten weg.

§.8. Mit den Fechten pflegt insgemein das Voltigiren vereiniget zu werden, da man über gewisse höltzerne Pferde nach besondern Regeln der Mechanic mit Geschwindigkeit springen, und besondere Lectiones machen muß. Es gehören gute, gesunde und starke Gliedmassen dazu, weil es eine sehr hefftige Bewegung ist; Wer nicht in Leibe recht gesund ist, muß dieses Exercitium unterwegens lassen. Doch ist es auch einen jungen Menschen, der Stärke, Geschwindigkeit, Gesundheit, Lust u. Geschicklichkeit dazu besitzt, nicht unanständig, und kan auch unter der Milice bey mancherley Vorfallenheiten seinen guten Nutzen erweisen. Es rührt das Voltigiren noch von denen Römischen Soldaten her; Denn, da musten die Reiter auf höltzerne Pferde springen, bald zur Rechten, bald zur Lincken, und zwar ohne Steig-Bügel; Diese hatten sie damals noch nicht. Hiezu war nun geordnet ein Exercitien-Meister, oder ein alter Officier, der eben das verrichtete, was heutiges Tages der Major thut. Er wurde Campi Doctor genennet. Aclianus hat in seinen schönen Buch von der Griechischen Krieges Disciplin, welches er dem Käyser Hadriano zugeschrieben, vieles berichtet von der besondern Übung. Sie brauchten sonst eben solche Wörter, als der Major heutiges Tages braucht, wenn er die Soldaten exerciret. Wer solte glauben, daß solche Formulen noch von alten Zeiten her wären. Ich will einige Terminos Frantzösisch aus der Frantzösischen Übersetzung des Aeliani hieher setzen:
Prenés vos armes,
Armes debout,
Prenés vos distances,
Tenés von rangs,
Avancés,
Demeurés,
Doublés les files,
Remettés Vous,
Doublés les rangs,
A droit faites la Conversion, Remettés Vous, und dergleichen alte Formulen mehr. Siehe bey dem P. Daniel Tom. I. Lib. V. Cap. VII. p. 374. 375.

§.9. Junge Cavaliers müssen zu den Turnier-Spielen, die an grosser Herrn Höfen von langen Zeiten an, biß auf die ietzigen gebräuchlich gewesen, praeparirt werden. Turniren ist ein recht altteutsches Wort, und heist so viel als lustig seyn. Käyser Heinrich der Vogler hat sie nicht so wohl erfunden, sondern A. 935 um den Frantzosen und Engelländern darinnen nachzuarten, angeordnet. Es sind derselben viertzig biß zu den Letzten, das zu Worms gehalten worden. Was zu solchen Turnier-Spielen erfordert wurde, kan man aus den Autoribus sehen, so davon geschrieben, absonderlich Rixner. Es fiengen sich die Turniere mit den Kolben an, darauf griff man zu den Schwerdtern und brachte mit selbigen den ersten Tag zu, folgenden Tages gieng das Gesteche in hohen Zeugen, und folgende Tage darauf die andern ritterlichen Übungen, mit Ringen, Springen, Lauffen, Stein- und Stangenstössen u. Werffen fort; Die Abende durch tantzte man mit den adelichen dazu erforderten Frauenzimmer, welche auch der Dancke, oder Gewinste austheilten, Diese bestunden in einen güldnen Schwerd, Kräntzen, güldnen Ringen, güldnen Ketten und andern Kleinodien, wiewohl an sich eben so genau daran nicht band, maßen wir lesen, daß Hertzog Heinrich von Thüringen auf seinen zu Nordhausen gehaltenen Turnier einen ziemlichen hohen Baum machen lassen, dessen Stamm und Zweige von Gold, die Blätter aber von SiIber gewesen, davon demjenigen, dem seine Lantze ohne Bewegung in Sattel gebrochen, ein silbernes Blatt, dem aber, der seinen Gegentheil aus den Sattel herunter geworfen, ein güldner Zweig zu Dancke ward.

§.10. Unsere Vorfahren hatten ein solches Spiel, welches sie Bundwerck hiessen, oder das Rennen in den alten Pund, wie denn sonderlich folgende Spiele wohl zu mercken: Das alt teutsche Gestech in hohen Zeugen, das teutsche Alt-Crönlein-Gestech, das alte Geschifft / Tartzen Rennen, das Wilisch Rennen in den Armen, das Feld-Rennen in den Stihl in Pund, und Stihlinglicher, ein Turnier zu Roß in Schimpf und Ernst zu gebrauchen, das Rennen mit dem Wulst, und die Tartzen fest angezogen, das Geschifft alt teutsche Scheiben-Rennen, das Gestech, so man nennet in Pain, das alte Rennen in den Scheiben-Schweif, und denn das Pfannen-Rennen. Allein es wird niemand sich wohl recht vorstellen können, worinnen diese Spiele bestanden, und wie sie von einander unterschieden seyn. Doch kan einer, der curieus seyn will, ziemlicher massen seyn Conto finden, wenn er Joh. Aquilam hierinnen zu Rathe ziehet, als der de omni ludorum genere, von allen und ieden Spiel-Arten, ein eigen Buch geschrieben. Des Rixners sein Turnier-Buch ist an einigen Orten verdächtig, und sind darinnen viel Umstände erdichtet, daß man sich also nicht vollkommen darauf verlassen kan."

Im Kapitel "von denen Duellen" referiert der Autor ausführlich über die Geschichte der Duelle anhand historischer Beispiele.
"Anhang. Das 3. Capitel. Von denen Duellen.

§.1. Die Vertheidiger der Duelle gehen in Ansehung ihres Ursprungs biß auf die allerersten Zeiten der Welt zurück, und behaupten, daß Cain und sein Bruder Abel zu dem Ende auf das Feld gegangen, damit sie daselbst einen ihres Vaters Hause entsponnenen Streit wegen des Vorzugs durch einen förmlichen Duel ausmachen möchten. Ob nun wohl die Rachgier der Menschen so alt als die Sünde, so ist wohl meines Erachtens der Todtschlag des Cains von der Methode der Duellisten gar sehr unterschieden; und gesetzt, daß der Ursprung des Duellirens aus dem ältisten Alterthum herzuholen, so wird doch solches in geringsten nicht hiedruch privilegiret, und wird ihn hiedurch so wenig Ehre zuwachsen, als dem Teufel welcher noch älter als die Welt ist.

§.2. Bey denen alten Römern wurden gewisse Arten der Duelle authorisirt, weil sie auf Befehl der Obern unternommen worden, und aus Veranlassung des Boni publici; Wenn man das häuffige Blut zweyer Armeen schonen wolte, so wurden von beyden Armeen die muthigsten und kühnsten junge Leute ausgelesen, die sich biß auf das Blut und den Todt miteinander schlagen musten, und die durch ihren Todt oder Sieg das Decisium fällen musten. Die Horatier und die Curiacier geben aus der alten Historie ein Exempel solcher des Boni publici unternommenen Schlägereyen. Dergleichen ereignete sich auch zu Zeiten Caroli Magni, nachdem sein bester General Milo von dem König der Saracenen in Stücke zerhauen worden, und die Menge der beyden Armeen ziemlich zerschmoltzen, so wurden beyde Häupter endlich einig, daß sie einigen jungen Leuten aus beyderseits Armeen anbefehlen wolten, daß sie durch ihr Blut diesen Streit ausmachen solten. Die Frantzosen triumphirten über die Ungläubigen, und so war der Streit geendiget. Ein gewisser Frantzose, nemlich Monsieur Audigier de l'ancien & vrai usage des Duels redet von dergleichen Duellen auf folgende Art: C est là, dit on, le plus grand, & le plus illustre sujet, pour lequels les Duels ont eté introduits au monde; c' est veritablement un honneur d'etre choist entre cent mille par son Prince, comme le plus vaillant homme du Royaume, pour defendres les droits de fa couronne devant luy, en presence de deux Armées: s'il meurt, c'est pour le Pays pour la Religion; & pour Dieu meme, qui autorisse les justes guerres, & preside sur les batailles, il meurt en homme de bien, sa mort est en bonne odeur a tout le monde; la memoire de sa Vertu est immortelle, son nom ne sera proferé qu' avec des Eloges d'autant plus honorables, qu 'ils fortiroint des bouches les plus ennemies; & s'il foit victorieux, qu'y a t'il de pareil au monde, le Roy ne doit par moins que son Etat à son epee, & le Pays fa liberté; Comme il a combattu seul, il est juste qu'il triomphe seul.

§.3. Eine andere Art der öffentlich autorisirten Duelle betraf die Probe der begangenen Verbrechen, die man nicht anders, als nach denen Regeln der Gerechtigkeit hätte entdecken sollen und können. Aber an statt daß man sich an seine Ober-Herrn hätte wenden sollen, so schlug man sich davor, seine Unschuld zu erweisen, und wenn die Vorgesetzten nach ihrer Beurtheilung ausriefen, daß es genung war, so war die Unschuld erwiesen, welches gewiß etwas einfältiges und wunderliches war, inzwischen doch öffentlich erlaubet wurde.

§.4. Es rückten in denen alten Zeiten nicht nur Privat-Persohnen auf befehl ihrer Obern zusammen, um denen Streitigkeiten gantzer Völcker ein Ende zu machen, sondern auch die Könige und Fürsten selbst wagten ihre Leiber und ihr Leben, und opferten solche vor die gemeine Wohlfahrth auf. Also haben die alten Saxen einen Dänischen König auf einen Zwey-Kampf heraus gefordert, damit den Kriege der Ausschlag dadurch gegebene werden solle. Haldanus, der König in Schweden, stritte mit Sivaldo, einen von denen Vornehmsten des Königreichs, um das Königreich. Der König der Langobarden Junipertus stritte mit dem Hertzog der Langobarden, Alache in einen Zweykampf, und ließ ihn durch einen Herold provociren. Als König Carolus mit Petro dem König von Aragonien wegen der Insul Sicilien lange Zeit Krieg geführt, so wurde ihnen endlich durch den Pabst und die Cardinäle angerathen, den Krieg durch ein Duell zu endigen, so auch geschahe. Eduardus, König von England, provocirte den König in Frankreich Valecium. So ist auch aus dem Goldasto bekandt, daß Francisus I. König in Frankreich mit Käyser Carl den V. duellirt.

§.5. Es geschahen die Provocationes der Duelle der grossen Herrn gemeiniglich durch zugeschickte Cartelle, darinnen sie anführten, was vor Tort ihnen von den andern erzeigt worden, und zugleich den Ort und die Art und Weise, wie sie zusammen gehen wollten, benennten. In der Ordnung des Kampf-Gerichts des Burg-Grafthums zu Nürnberg §.11. wird die Art und Weise, wie die Duellanten sollten bekleidet, und mit was Waffen sie versehen und ausgerüstet werden solten, beschrieben, auf folgende Weise: Er soll bekleidet, und gewapnet seyn mit einen groben wöllern Gewandt, nemlich Rock, Hut und Hosen an einander, alles mit Riemen genehet, und ein Creutz von Leder darauf genehet, ohn alle Leinwand, und soll haben in seiner Hand einen Schild ohne Eisen, sondern allein von Holtz, Haaren und Leim gemacht, mit einem weisen leinen Tuch überzogen, und darinnen ein roth leines Creutz genehet seyn, und in der andern Hand soll er haben einen höltzern Kolben, gedörret oder gebrennet. Man siehet also, daß diese alte Art zu duelliren, von unserer heutigen Mode, da sie mit dem Degen oder mit Pistohlen zusammen gehen, gar sehr unterschieden, und dürffte vielleicht diese alte Zurüstung manchen Leser ziemlich spöttisch vorkommen.

§.6. Der Endzweck des Duellirens der grossen Herrn war unterschiedlich. Bißweilen geschah es durch ein Compromiss aus Liebe vor die allgemeine Wohlfarth, und daß das Blut ihrer Unterthanen dadurch geschonet werden solte. Die Worte des Kaysers Caroli V. die er vor den Duel mit dem König in Franckreich Francisco I. in dem Consistorio zu Rom vor dem Pabst und denen Cardinälen sagte, sind gar denckwürdig: Wie mein Gemüth nicht anders stehet, denn alle mein Vermögen darzustrecken, die Christenheit von der Furcht der Türcken zu entledigen; Also gebe GOtt dem König von Franckreich in sein Hertz und Sinn, daß er mit mir allein ohn ferner Blutvergiessen, auf einen Platz, oder auf eine Brücke, oder auf einen Schiffe in Meerkämpfen und alle die Kriege und Irrungen, so er gegen mir zu haben vermeint, erörtern, es sey mit was Waffen er wolle, auf daß allein von zweyer wegen nicht dürfen umkommen, so viel tausend Edler streitbarer Christgläubiger, und sage, daß hier auf dieser gegenwärtigen Stelle Platz genug vor solchen Krieg zu örtern mit dem König von Franckreich, das ist mit Beding, daß sich ejder zu E.H. Handen obligire und verbünde, daß der da siegt, unser beyde Heer annehme, und die Victorie wieder den Türcken verfolgen solle und wolle.

§.7. Was die Regeln der Morale und der Politic nach von denen Duellen groesser Herrn zu urtheilen, will ich hier nicht entscheiden, indem ich mir vorgesetzt mehr historische, als moralische Sachen anzuführen. Die Waffen, so die Zwey-Kämpffer gebrauchen, musten allzeit in allen Stücken einander gleich befunden werden, damit ein jeder seine Tapferkeit hiedurch erweisen konte. Den Ort, wie sie auf einander loß giengen, muste eben sicher und nicht waldicht, noch bergicht, auch der Sonnen und den Winden nicht entgegen gestellt seyn. In den alten Schwaben-Spiegel im 1. Buch wird die Breite dterminirt, wenn es heist: Einen Ring soll man machen, der soll 20. Schuh oder 25. Schuh weit seyn, nach des Landes Gewohnheit.

§.8. Manchmal bestand der Endzweck der Duelle grosser Herrn nicht so wohl in Schonung des Blutes ihrer Unterthanen, und der Armeen, als vielmehr in Ausübung der Rache und ihr gegen einander erbittertes Gemüthe abzukühlen. Bißweilen aus lalousie, wenn etwan ein grosser Herr um eine Princeßin Anwerbung that, und ein anderer wolte sich auch mit ihr vereheligen, oder hatte sie den anderen weggenommen. Gleichwie die Duelle heutiges Tages von allen Potentaten auf das schärffste verpönt, und also wird es selten geschehen, daß regierende Häupter einander auf einen Zwey-Kampff heraus fordern solten.

§.9. Die Bravoure ist derjenige Götze, dem die Duellisten zu allen Zeiten ihre Ruhe und ihr Leben aufgeopffert, sie gläuben, daß es schimpflich sey, wenn es einem an der Resolution fehlt, zu allen Zeiten einen Feind, der es verlangt mit den Degen oder Pistohlen Tete zu machen, der nicht willig ist zu allen Zeiten sein Blut zu vergießen, wird des Umganges und der Gesellschaft mancher Leute vor unwürdig geachtet, daher ist das vielfältige Verlangen entstanden, diejenigen so in der Reputation stehn, daß sie brav sind, zu attaquiren, dahero haben die Point d'Honneur ihren Ursprung hergeleitet, die die Welt mit so viel unnöthigen querelen und Stänckereyen angefült. Daher haben einige Combattanten vermeynt, fast die Unsterblichkeit zu erlangen, wenn sie über tapffere Leute victorisirt. So sagt Horatius in den I. Buch der VII. Satyre.
Ut ultima dividerit mors:
Non aliam ob causam, nisi quad virtus in utroque summa suit.

§.10. Einige von denen alten Duellisten bauten gar auf das Principium, daß die Gottheit selbst unmittelbar über die Duelle praesidirte, und sich vor den Unschuldigen wider den Schuldigen erklährt. Man gieng daher vor dem Duel in die Kirche zu bethen, und zu beichten, man hielt denjenigen, der entweder geflohen, oder geblieben, oder blessirt worden, vor recht schuldig, man wolte von ein Hauffen Miraculn wissen, so die Providence ausgeübt, um die Unschuld zu entdecken. V. Savaron Traite contres les Duels p. 12. & 23. Es ist aber eine grosse Verwegenheit, wenn man den grossen GOtt in das jenige, so in seinen Gesetzen verbothen ist, mitziehen will. Inzwischen ist dieses abschäuliche Principium, wie aus der Historie bekandt ist, einige Secula nach einander in Schwange gewesen, biß endlich die Leute mehr erleuchtet worden zu erkennen, daß |diese Mittel die Unschuld und das Verbrechen zu entdecken sehr unsicher und den Ideen des Christenthums zuwieder wären.

§.11. Vellejus Paterculus und Tacitus geben denen Teutschen und Nordsichen Völckern das Zeugniß, daß sie den Gebrauch gehabt, daß sie ihre Proceße und Bürgerliche Streitigkeiten durch die Waffen decidirt hätten. Es muste bey den alten Völckern alles Kriegerische heraus kommen. Die die streitbarsten Helden waren, wurden zu den Königlichen und Richterlichen Dignitäten am ersten erhoben, und da sie ihre Häupter mehr zu dem Ende erwehlten, daß sie in den benachbarten Ländern schlagen, rauben, und plündern, als die Gesetze bewahren, die Gerechtigkeit, Policey und gute Sitten handhaben solten, so waren die tapffersten auch die Gerechtesten. Sonderlich war es auch in Schweden und Dännemarck gebräuchlich, die Particulier Differentien durch die Waffen auszumachen. Frotho III. gab ein gesetz, daß es besser wäre, die Streitigkeiten durch den Deegen als durch die Vernunft, durch Schläge als durch Worte auszumachen. Eine sehr löbliche Verordnung von einem Könige! Dieses Gesetz ward nachgehends in Scandinavien in Norwegen und in vielen Provinzien Teutschlandes angenommen, die Herren giengen bey dem Faust-Recht ihnen mit guten Exempeln vor, und die Vasallen und Unterthanen folgten ihnen getreulich nach. Also bestund ihr Processualische Verfahren in breiten Schlacht-Schwerdter, und schweren Streitkolben.

§.12. Die Zwey-Kampfe, die durch dieNordsichen Völcker nach Teutschland gebracht worden, waren nicht nur de facto noch gebräuchlich, sondern auch in denen öffentlichen Landes-Gesetzen privilegirt, wie denen Herrn Gelehrten, die in der alten teutschen Historia bewandert sind, und sich in den Capitularibus der Fränckischen Könige umgesehen, bekandt ist. Wolte die Geistlichkeit gleich eine und die andere Vorstellungen dagegen thun, so war doch dieses alles unkräfftig, sie hievon abzubringen, sie hielten diesen Modum vortrefflich compendieus, und beriefen sich hiebey wohl gar auf das Exempel des Königes Davids, der mit den großen Riesen den Goliath, duellirt hätte.

§.13. Nachdem die Turniere und Ritter-Spiele in Teutschland Mode worden, so hörten die Duelle ein wenig auf; Es wurde vor glorieuser geachtet, seine Geschicklichkeit und Tapfferkeit auf Befehl seines Herrn bey einer angestellten Lustbarkeit und wieder den, der nicht vor Feind angesehen ward, zu erweisen, als wieder den Feind, und war auch nicht so gefährlich. Doch fande sich auch nachgehends, da die Feuda militaria, die Soldaten Lehne, introducirt worden, wieder Gelegenheit, daß man die Duell und das Faust-Recht hervor suchte. Es musten diejenigen, die mit einem Soldaten Lehn belehnt wurden, einen cörperlichen Eyd ablegen, indem ihnen der Deegen und die Spohren übergeben wurden, daß sie keinen eintzigen Schimpff auf sich wolten ersitzen lassen. Dieser Eyd obligirte sie nicht nur, daß sie sich durch die Schärffe der Waffen revengiren musten, sondern machte sie auch gar empfindlich in Ansehung der Injurie.

§.14. Diese Ritter animirten durch ihre Discourse und Exempel andere, um sich wegen allerhand Beschimpfungen auf das blutigste zu rächen. Es muste einer aus einem guten Hauße sesn, der zu dergleichen Soldaten-Lehn gelangen wolte, die Söhne der Prister, der Bauren, und der Bürger wurden davon ausgeschlossen. In dem Eyde, den diese Equites, die anch von denen güldenen Spohren Equites aurati genennt werden, abzulegen hatten, war enthalen daß sie das heilige Officium und die Meße fleissig abwarten, ihre Cörper aus Liebe vor den Catholischen Glauben allerhand Gefahr unterwerfen, die heilige Kirche wieder ihre Beleidiger beschützen, die Wittwen und Wäysen vertheidigen, und zur Defension der unschuldigen duelliren wolten.

§.15. In dem dreyzehenden und vierzehenden Seculo waren die Duell in Italien trefflich Mode, und die Gelehrten unter den Geistlichen und Rechts-Gelehrten verteheidigten sie in öffentlichen Schriften. Ja es kam endlich gar so weit, daß man das duelliren in forme einer Wissenschaft brachte, welche man auf Italiänisch la Scienza Cavallerisca nennte; Man examinirte sie nach allen Praedicamenten und Regeln der Dialectica, man zeigte die Antiquitaet, den Adel und die Vortrefflichkeit dieser Kunst, man gab unzehlig viel Regeln, auf was vor Art man die Reparation d'honneur suchen und erlangen, und wie man nicht das geringste solte auf sich ersitzen lassen.

§.16. Es gab dem Duelliren ein sehr groß Gewichte, daß die Herrn von der Geistlichkeit selbst bißweilen sich in einen Zwey-Kampf einließen; Und da die Bischöffe und Aebte die doch die doch mit den geistlichen Waffen nur streiten solten, zu den leiblichen Waffen griffen, so hatten nicht nur die Mönche, sondern auch andere Weltliche gut duelliren. Man konte dieses der Geistlichkeit nicht verdencken, indem die Päbste es vor ein groß Verbrechen hielten, wenn einer bey einem Duell, da er von einen anderen gefordert worden, nicht erscheinen wolte. Pabst Nicolaus I. nennte die Duelle ein rechtmäßig Gefechte, und einen durch die Gesetze autorisirten Streit. Also musten die Canonisten, die sich sonst um dergleichen Materien bekümmern, wolten sie die Päbstliche Censur nicht befürchten, hierzu stillschweigen.

§.17. Wie nun die Weltlichen Herrn und Potentaten sich gerne nach den Geistlichen in den vorigen Zeiten zu richten pflegten, also wurde auch die Duel-Freyheit nicht allein in Franckreich, sondern auch in allen Ländern privilegirt. Die grossen Herrn machten sich eine Ehre draus, daß sie an ihren Höfen solche brave Cavaliers hatten, deren Hertzhafftigkeit sie hätten kennen lernen, und die sie bey allerhand gefährlichen und verwegnen Actionen hernach gebrauchen konten. In den Schrifften, so alte Gesetze anführen, ist zu ersehen, daß grosse Herren einigen Standten, Districten, und gewissen Publiquen Oertern die Freyheit ertehilet, daß sich ein iedweder nach Gefallen an denselben mit seinen Feind schlagen und duelliren könnte. Wenn einer boßhaffter weise von einem andern hingerichtet worden, so rottirte sich die gantze Familie zusammen, wieder die gantze Familie des Thäters, und kündigte ihr gleichsam, um den Todt ihres Anverwandten hiedurch zu rächen, einen kleinen Krieg an. War einer sonst in einen Streit und Process mit einen andern gerathen, so muste sich die gantze Familie drein legen, und mit Antheyll dran nehmen.

§.18. Hatten sich unter grossen Herrn, Geistlichen oder Weltlichen Standes, wegen der Lehn, oder Landschafften, Disputen erhoben, so musten mehr die Duelle als die Autorität der Könige das Decisum fällen, wem das Eigenthum von diesen oder jenen Lehn oder Stuck Landes zu fallen solte. Ein Vasall konte zwar seinen Lehn-Herrn nicht auf einen Zwey-Kampff herausfordern, noch ein Bauer einen Ritter, so bald sie aber von gleichen Umständen waren, wurde der Lehns-Process durch diesen Weg entschieden. Die Abteyen und die Länder, die denen Kirchen dependirten waren diesen Gesetz ebenfalls unterworfen, die Aebte und Bischöff machten einen tapfern und gerüsteten Mann aus, der ihr Recht wieder denjenigen, der sich dieselben anmaßen wolten, mit dem Deegen in der Faust behaupten und vertheidigen muste. Es ist schandbahr, wann man bey denen alten Historicis findet, daß auch manche geistliche Controversien durch den Duell haben sollen ausgemacht werden, und dam na es noch dazu GOtt auftragen wolte, daß er seinen Willen hierinnen zu erkennen geben solte.

§.19. Es wäre noch hingangen, wenn in den Barbarischen und übel polirten Seculis von denen grossen Herrn einige Mißbräuche, die bey den Duellen angetroffen worden, und einige schändliche Gewohnheiten wären geduldet worden; Aber so muß man sich wundern, daß sie durch ihre Statuta und solenne Gesetze dieselben noch dazu aotirisirt, sie regulirt, und durch ihre Ansehen diesen Regeln eine besondere Krafft verliehen, damit der Streit in seiner gehörigen Forme fortgesetzt würde: So muste der Angeklagte sich an den Richter adressiren, ihme seine Klage vortragen, erklähren daß der Ankläger nicht wahr geredet, sich alsdenn zum Schlagen offeriren, und Ansuchung thun, daß sein Gegenparth mit ihn duelliren möchte. Dieses ward dem Contra-Parth angedeutet, und also der Zwey-Kampff fortgesetzt und vollbracht. Es ward auch noch wohl von der Obrigkeit der Orr marquirt, auf welchen sie sich schlagen solten. Au dem Kampf-Platz war ein Herold, der rieff mit lauter Stimm erstlich den Anklager, und hernach auch den Angeklagten. Wo sie sich schlugen, waren gewisse Schrancken gesetzt, und hinter den Schrancken stund eine große Menge Zuschauer, die Acht hatten, was dabey vorgienge.

§.20. Bevor der Zwey-Kampf angieng war ein grosser Disput wegen der Combattaten ihrer Waffen, die sie gegen einander gebrauchen wolten, und wurden sie mit grossen Ceremonien so wohl von denen Richtern, als auch von denen Duellanten examinirt. Bißweilen gieng die Sonne über diesen Disputen unter, und die Schlägerey muste auf den andern Tag aufgeschoben werden. Es durffte keiner gantz neue Waffen nehmen, und weil das Bezaubern derer Waffen damahls auch sehr gebräuchlich war, so bemühete man sich durch allerhand Praecautiones die Bezauberung zu entdecken. Die Longobarden, die von dieser närrischen Phantasie eingenommen waren, publicirten unterschiedliche Verordnungen, die Zauberkünste zu entdecken und zu verhindern.

§.21. Man decidirte tausenderley andere wunderliche Puncta. Einer der nur die lincke Hand gebrauchen und regieren konte, durffte seinem Feind obligiren, daß er sich eben dieser Hand bedienen muste. Gieng das unter denen Partheyen verabredete Duel nicht vor sich, so musten sie ihren Herrn eine gewisse Geldstrafe erlegen, und zwar die Helffte von derjenigen Summe die unter den Partheyen, als eine Conventional Strafe, verglichen und verabredet worden. Viele von den grossen Herrn, verehrten hernach dasienige Geld, welches man mit Recht Blut-Geld hätte nennen können, den Klöstern und Kirchen; bißweilen zogen sie es auch wohl in ihre Cassen. Lag einer in einen Duel unter, ohne doch das Leben einzubüßen, so verlohr er entweder den Kopf, oder wurde ein Sclav seines Feindes, der sich öffters seines Sieges mißbrauchet, und denjenigen, gegen den er obgesiegt, schimpfliche und schändlichste Dienste aufbürdete. An andern Oertern hieb man ihm eine Hand ab, oder man sperrte ihn einige Jahr in das Gefängniß ein, bißweilen erzeigtem ihn auch die grossen Herrn wieder Genade, es geschahe dieses aber gar selten.

§.22. Das erschrecklichste war, daß man in den Gedancken stunde, die Göttliche Direction wäre allezeit mit bey den Duellen, und übte ein solch Gerichte aus, um die Unschuld an Tag zu bringen, und den Schuldigen zu bestrafen, als er dereinsten an jenen Tage ausüben wird, und daher favorisirten auch die Gesitlichen Persohnen den Duellen. Einige Aebte bestraften noch dazu diejenigen, die sich in keinen Duell hatten wollen einlassen. Pabst Innocentius IV. verboth den geistlichen Persohnen, daß sie sich mit keinen Duellen sollten meliren bey Strafe des Banes, sie hatten aber gar wenig Respect vor diese geistliche Decision, und es blieb einmahl wie das andere bey dieser üblen Gewohnheit. Stelten einige gleich vor, daß die Kirche mit dem Blute nichts zu thun hätte, so sagten die Geistlichen Persohnen, daß sie sich in Zukunfft, wenn sie es der Nothwendigkeit zu seyn befinden, würden nicht mit dem Schwerdten, sondern mit dem Bischoffs Stäben und  andern dergleichen schmeißen würden. Also ware die Maximen der Duellisten tief in die menschlichen Hertzen eingeprägt, daß sie niemand daraus reissen konte.

§.22. Einige Päbste wiedersatzten sich einer so schändlichen Gewohnheit, andere aber hingegen connivirten dazu, und ihre Legaten ordneten die Duelle wohl noch gar dazu an, oder gaben doch Zeugen, Richter, und Belohner bey den Duellen ab. Der Cardinal Legat Pabst Gregorii IX. der Bologna belagert, ordnete ein Duell an, zwischen zwey Brittaniern und zwey Florentinern, welche untereinander bravirt hatten, welche Nation die tapferste und muthigste sey. Der Cardinal Legat war denjenigen, der als Uberwinder victorisirt hatte, noch dazu behülfflich, daß er sich mit der Flucht salviren konte. Wurde ein Duel der geistlichen Güter wegen vorgenommen, und der Kirche wegen, so wurden die Duellisten, sie möchten Unüberwinder oder Uberwinder abgeben, gar den Märtyrern und Heiligen beygezehlt. Bey diesen Gelegenheiten wurden ein Hauffen Religions Handlungen vorgenommen. Ehe man das Duell antrat, brachte man gantze Nächte in den Kirchen und vor denen Altären zu, man rief vorhero gewisse Heiligen um deren Hülffe und Beystand an, insonderheit den Heiligen Georgium, als den Schutz-Patron der Ritter, man legte die Beichte ab, man empfieng das Heilige Nachtmahl. Durch alle diese Handlungen glaubt man nur Krafft zu erlangen, um den Feind zu überwinden.

§.23. Unter denen abergläubischen Methoden der damahligen Zeiten, die Wahrheit zu entdecken, gehört, die Probe mit den gluehenden Eisen, von wecher Probe auch dieienigen, die Crohn und Scepter fuhrten, nicht einmahl befreyet waren. Wolte man aber diese Probe anstellen, so examinirte man erstlich ihre Hände, man bedeckte sie mit Leimen, man drückte ein Siegel drauf, und verwahrete sie auf alle Weyse, so gut man konte, damit sie nicht Gelegenheit hatten, sich die Hände mit den Safft eines gewissen Krautes, oder mit einer Salbe zu salben, die etwann die Hefftigkeit des Feuers hätte können zurück halten; Man muste das Eisen mit gewissen Gebethen confecriren, und man legte ihm eine gewisse Wunderbringende Krafft bey. Es wurde hernach ein solches Eisen als eine grosse Rarität in denen Klöstern der Abteyen aufbehalten.

§.28. Nachdem nun die Freyheit zu duelliren, oder seinen Nächsten nach denen Regeln der Kunst zu blessiren und zu ermorden, je mehr und mehr von denen grosse Herrn als eine schändliche und den gantzen menschlichen Geschlecht höchst schädliche Sache erkannt wurde, so fiengen sie an scharfe Verordnungen dawieder zu publiciren; Sonderlich wurde zu der Zeit, da das Licht des heiligen Evangelii in Teutschland anfieng aufzugehen, alles schändliche Balgen und Rauffen in denen Policey-Ordnungen scharf verbothen, doch die Verbrecher fanden immer Mittel, durch allerhand Methoden alle diese gute Verordnungen zu eludiren, biß endlich die Potentaten in Europa zu Ausgang des verwichnen Seculi und zu Eingang des ietzigen anfiengen, wieder das eingerissene Duelliren einen grösseren Ernst zu bezeugen, und solches in besondern Duell-Edicten und Mandaten scharf zu verpönen. Ich habe nicht nöthig den Inhalt der Duell-Mandate weitläuffig vorzustellen, in dem sie eine ieden sattsam bekandte Sache sind, und wünsche nur, daß sie auf das fleissigste möchten beobachtet werden, und die in Regula verbothene Duelle biß an das Ende der Welt verbothen bleiben mögen."
Anmerkungen:

(1) Vergleiche auch Hummelberger, W.: Hannss F von Fleming: Der Vollkommene Teutsche Soldat, welcher Die gantze Kriegs-Wissenschaft, insonderheit was bey der Infanteri vorkommt, ordentlich und deutlich vorträgt, Biblio-Verlag 1967.

Dienstag, 1. Mai 2012

Ein Göttinger Studentenduell von 1766 mit tödlichem Ausgang


Der Historiker Otto Deneke (1875-1956) rekonstruiert in einer 1934 entstandenen Schrift das Duell zwischen den Studenten Techentin und Carmon: "Ein Göttinger Studenten-Duell von 1766. [Den Studenten-Historikern zur Oster-Tagung 1934 in Tübingen gewidm.]. Verlegt in Göttingen, Weender Str. 3., 1934. Aus: Göttinger Zeitung, Beil. Alt-Göttingen."

Der Text

Während der ersten siebzig Jahre der Universität Göttingen ist es nur einmal vorgekommen, daß ein Student im Zweikampf getötet wurde, im Jahr 1766. Damit stand Göttingen in bemerkenswertem Gegensatz zu Jena. Jena war in alten Zeiten eine rechte Raufer-Universität, in der kein Jahr verging, ohne daß wenigstens ein Student im Duell oder sonstigen Rencontre sein Leben lassen musste. „Wer von Jena kommt ungeschlagen, der kann von Glücke sagen,“ ist ein Stammbuchvers des 18. Jahrhunderts. In Göttingen aber rühmten sie sich sehr laut, daß während des ganzen 18. Jahrhunderts von mehr als 18.000 Studenten nur ein einziger im Duell geblieben sei. (1)
Anlaß und Vorgeschichte dieses Göttinger Zweikampfes mit tödlichem Ausgang sind recht alltäglich, ja trivial. Aber um seiner Nachgeschichte willen lohnt es sich vielleicht, das Ganze nach den Quellen zu erzählen.
Am 21. April 1766 machten fünf Göttinger Studenten einen Spazierritt nach Sattenhausen, einem Dorfe etwa 12 Klm. von Göttingen. Solches „zu Dorfe steigen“ oder „dorfsatim gehen“ gehörte damals zu den beliebtesten Zerstreuungen der Studenten. Was die jungen Leute gerade nach Sattenhausen zog, sieht man nicht. Vielleicht war es nur die Tatsache, daß Sattenhausen nicht hannoversch, sondern hessisch war. Es war Hessen-Rheinfels-Rothenburgischer Besitz, für die Göttinger also Ausland, in das der Arm der Göttinger akademischen Behörde nicht reichte.
In Sattenhausen hatten die Studenten kräftig gezecht. Auf dem Rückweg fällt einer von ihnen, namens Lorenz Christian Carmon, ein Mediziner aus Parchim, aus Trunkenheit vom Pferde; das Pferd läuft davon. Zwei andere von der Gesellschaft, darunter Joh. Heinrich Techentin, Jurist aus Lübeck, reiten dem Pferde nach und fangen es beim Eichenkrug. Sie warten hier im Kruge auf Carmon, der dann auch zu Fuß eintrifft. Er ist sehr unwillig und schimpft gewaltig, insbesondere auf Techentin, von dem er erwartet hatte, daß er ihn mit dem Pferde wider von der Unfallstelle abhole. Es kommt beinahe zu einer Schlägerei. Am nächsten Morgen wird eine gütliche Beilegung versucht. Die beiden Gegner haben sich schon ziemlich wieder vertragen, aber die mecklenburgischen Landsleute Carmons wollen es nicht leiden, daß er sich mit Techentin vergleiche. Und zu Techentin kommt der stud. Kölling und sagt ihm, er müsse sich dennoch schlagen; in Halle würde einer, der sich nicht schlagen wolle, jämmerlich verprügelt. Am 22. April 1766 nach 1 Uhr mittags kommen also die beiden Gegner auf der Stube eines Dritten, des Studiosus Baumgarten, zusammen – in dem Hause des Hofraths Joh. David Michaels. (2)  Es ist das heute noch ziemlich unverändert stehende geräumige Haus gegenüber dem Eingang zur Universitätsbibliothek, das im Jahre 1737 als Londonschenke erbaut worden war, während des siebenjährigen Krieges aber als französisches Militärlazarett gedient hatte. Michaelis hatte es 1764 gekauft. Den Hauptteil nach der Prinzenstraße zu bewohnte er selbst. Davon getrennt war der Seitenflügel, der mit einer 13-Fenster-Front auf die Allee blickt und auch einen eigenen Eingang mit Treppe hatte, der jetzt nicht mehr vorhanden ist. Diesen Seitenflügel vermietete Michaelis an Studenten, von denen viele in den beiden Stockwerken Platz hatten. Einer von diesen war Baumgarten und auf dessen Zimmer im ersten Stock an der nördlichen Ecke fand das Duell statt. Als Sekundanten traten die Studenten Günandt und Kölling auf, anwesend waren noch einige andere Studenten. Schon kurz nach Beginn erhielt Techentin von der dreieckigen Hohlklinge des Gegners einen Stich in die rechte Brust, durch die Lunge hindurch in das Pericardium (Herzbeutel), sodaß er sofort umfiel. Man legte ihn aufs Bet; der eiligst herbeigerifene Chirurg Bodenstein fand ihn schon tot. Der siegreiche unglückliche Gegner setzte sich, wie immer in solchen Fällen, sofort auf flüchtigen Fuß, mit ihm die beiden Sekundanten und zwei Zuschauer. Als die akademische Behörde unmittelbar danach durch den Chirurgus von dem Vorfall erfuhr, hatten alle Beteiligten Göttingen schon verlassen. Die Behörde schickte sogleich reitende Boten an alle Aemter und Städte der Umgegend, um der Flüchtigen habhaft zu werden. Man hat aber keinen gefast. Später hörte man die merkwürdige Nachricht, daß sie sich in den eichsfeldischen Klöstern verborgen gehalten hätten.
Wenn man den Täter Carmon gefaßt hätte, wäre es ihm sehr schlimm ergangen, wie man sogleich sehen wird. Selbst den unglücklichen Toten behandelte man noch mit befremdlicher Grausamkeit. Man gönnte ihm nicht ein ordentliches Begräbnis; er wurde am 23. April nachts in einem platten Sarge außerhalb der Kirchhofsmauer eingegraben. Sein Vater, ein Konditor in Lübeck, wurde von dem Todesfalle in Kenntnis gesetzt, aber auf sein Anerbieten, er wolle die Kosten eines anständigen christlichen Begräbnisses tragen, erhielt er keine Antwort. Als Lichtenberg (3), der damals Student in Göttingen war, fünfundzwanzig Jahre später in einer melancholischen Anwandlung sich die Namen seiner Freunde und Bekannten zusammenstellte, die auf dem Friedhofe nahe bei seinem Gartenhause an der Weender Landstraße begraben lagen, notierte er darunter auch: „Der erstochene Techentin außerhalb der Mauer.“
Die akademische Behörde wird durch diesen beklagenswerten, in Göttingen unerhörten Vorfall peinlich betroffen. Der nach wenigen Tagen an die Hannoverschen Geheimräte erstattete Bericht zeigt, daß man auf harte Vorwürfe gefaßt war und diesen zuvorzukommen suchte. „Der Geist einer eingebildeten Ehre, als wenn alle Schimpfworte durch den Degen ausgemacht und nicht ausgeklagt werden müßten, ist auf Universitäten aller angewandten Bemühung ohngeachtet zu vertilgen nicht möglich gewesen.“ Man glaubt einen Seufzer der Erleichterung zu hören, wenn man auf dem Konzept dieses Berichtes die Notiz des alten Syndicus Riccius findet: Auf diesen Bericht ist keine Antwort erfolgt.
Die behördliche Behandlung des Falles bestimmte sich durch das Duell-Edikt vom 18. Juni 1735. Darin lautet Artikel 14: „Wenn ein Duell geschieht und einer der Duellanten dabei entleibt wird, so soll der Täter ohne Unterschied seines Standes oder Wesens und ohne alle Begnadigung mit dem Schwerte vom Leben zum Tode gebracht werden. Wenn man der Person des Mörders nicht habhaft werden kann, ist sein Bildnis mit einer Beschreibung der Beschaffenheit seines Deliktes an den Galgen zu henken. Diese Bestrafung in effigie (4) soll aber die gesetzte Todesstrafe nicht aufheben ..“
Die Untersuchung gegen die flüchtigen Täter dauerte den ganzen Sommer hindurch, ohne daß aber wichtige  neue Erkenntnisse gewonnen wären. Erst im November 1766 kam die Universitäts-Deputation (das akademische Gericht), bestehend aus Kästner (Prorector), Förtsch, Walch, Meister, Ahrer, Schröder, Becmann, zu dem Urteil: Da der Stud. Carmon sich wegen der von ihm im Duell begangenen Entleibung des Stud. Techentin auf flüchtigen Fuß gesetzt hat, so ist nach Vorschrift des 14. Artikels des Duell-Ediktes sein Bildnis mit einer Beschreibung der Beschaffenheit seines Verbrechens an den Galgen zu henken. Von Rechts wegen.
Ob der Deputation ganz wohl dabei gewesen ist, als sie in gehorsamer Anwendung des alten drakonischen Duell-Ediktes auf die Strafe des Aufhängens in effigie erkannte, darf bezweifelt werden. Die Geheimräte in Hannover aber bestätigten das vorgeschlagene Urteil in vollem Umfange, insbesondere, daß das Bildnis des Carmon zum Abscheu und Exempel an den Galgen gehenkt werde. Jedoch solle, nachdem es vier Wochen gehangen, darüber weiter angefragt werden. Nur bringen die Geheimräte ein formelles Bedenken zur Sprache: Es ist doch wohl die öffentliche Ladung der Beschuldigten in dreien Territoriis gehörig angeschlagen gewesen, damit gegen die Legalität des Verfahrens nichts einzuwenden ist.
Die Deputation benutzt diese sich bietende Möglichkeit des Aufschubs der Execution offenbar sehr gern und berichtet nach Hannover, daß eine solche Edictal-Citation (5) in dreien Territoriis nicht stattgefunden habe. Das werde zwar bei anderen Delinquenten observanzmäßig so gehalten in Deutschland, aber nicht an den Universitäten; hier begnüge man sich mit der Ladung am Schwarzen Brett, um die Angehörigen der Sudenten nicht unnötig in Besorgnis zu bringen. Erfahrungsgemäß erhielten die Adressaten doch Nachricht. In diesem Falle haben die Entwichenen sogar in den eichsfeldischen Klöstern, wo sie isch aufgehalten, davon Nachricht erhalten. Man könne diese Edictal-Citation übrigens noch nachholen, nur müsse dann die Execution des Carmon in effigie aufgeschoben werden.
Zugleich wirft aber die Deputation die Frage auf, in welcher Weise denn diese Execution vollzogen werden solle? Das aufzuhängende Bild wird die Universität malen lassen. Aber das Aufhenken muß doch wohl der hiesige Gerichtsschulze besorgen. Ferner sei zu erwägen, zu welcher Tageszeit die Execution zu unternehmen sei. Geschieht es am hellen tage und mit Vorbewußt der Leute, so gibt es einen großen Auflauf, welcher zu allerhand Suiten Anlaß geben könnte. Man erbitte sich also Verhaltungsbefehle, ratione modi et temporis, für Art und Zeit der Execution.
Die Räte antworteten, daß man es bei der nicht geschehenen Edictal-Citation bewenden lassen wolle, fügen aber etwas ungeduldig hinzu, daß diese Sache nun lange genug gedauert habe und nicht weiter in die Länge gezogen (protrahiert) werden dürfe, sondern die in effigie zu vollstreckende Execution sei unausbleiblich innerhalb acht Tagen zu vollziehen. Damit die Sache nun wirklich in Gang kommt, ergeht gleichzeitig eine Anweisung an den Gerichtsschulzen, er solle wegen der Execution mit der akademischen Behörde das Nötige vereinbaren (concertieren), insbesondere ob und welchergestalt auf dem Markte ein besonderer mit einem Querholze, um das Bildnis daran zu hängen, zu versehender Pfahl aufzurichten nötig sei. Ein besonderes Augenmerk ist darauf zu richten, daß alle Unordnung und Unruhe vermieden und abgewendet werden möge (14. Dezember 1766).
Am gleichen Tage aber geht ein zweites Resript an die Universität, aus dem man ersieht, daß den Räten in Hannover nun doch allmählich Bedenken erwachsen. Es waren nämlich im Sommer 1766 erhebliche Unruhen unter den Studenten in Göttingen vorgefallen, die nur mit Mühe beigelegt werden konnten. „Weilen uns aber die Besorgnis ständig bevorschwebet, daß unter den Studiosis noch eine Fermentation übrig sei, welche bei einer solchen Gelegenheit zu neuen Unruhen ausbrechen möchte, so werdet Ihr mit reifem Vorbedacht überlegen, ob es nicht besser sei, den Actum des wirklichen Aufhängens des Bildnisses nicht bei Tage, sondern in der Stille, bei später Nacht oder lange vor Tage vor sich gehen zu lassen, und hierzu die Nacht vorher, ehe die Execution hätte vor sich gehen sollen, zu wählen, als wodurch viele Unlust und besorgliche Folgen können vermieden werden und gleichwohl dem rechtlichen Spruche ein Genüge geschieht. In diesem Falle ist das Vorgehen aufs Aeußerste zu secretieren, damit unter den Studiosis nichts davon expiriren möge.“
Am 16. Dezember 1766 fand dann die gemeinsame Beratung der Deputation mit dem Gerichtsschulzen, dem obersten königlich-kurfürstlichen Gerichtsbeamten zu Göttingen, statt. Die Universität wird das Portrait des Carmon malen lassen, mit der Aufschrift: „Bildnis des Stud. Carmon, der im Duell den 22. April 1766 den Techentin entleibet und wegen der ergriffenen Flucht jetzo bestraft wird, mit Vorbehalt einer Lebensstrafe.“ Das Bild, also den armen Sünder, wird die Universität dann dem Herrn Gerichtsschulzen zum Vollzug der Execution übergeben. Nun aber ergibt sich die schwierige Frage: Was für ein Ort ist für Execution zu wählen? Wollte man einen neuen Galgen aufführen, so müßten die Zünfte dabei konkurrieren. (Bei Errichtung eines neuen Galgens müssen nach altem Brauch alle Zünfte wenigstens symbolisch mitwirken. Indem sie sich so mit den Zimmerleuten, die den Galgen bauen, solidarisch erklären, bleibe diese vor der Unehrlichkeit bewahrt, die sonst mit der Handtierung am Galgen verbunden ist.) Da die Stadt selbst nicht die oberste Gerichtsbarkeit hat, so würde die Stadt und der Magistrat auch nicht erlauben, daß in der Stadt selbst ein neuer Galgen errichtet würde. Der Soldaten-Galgen könne auch nicht genommen werden, denn der Herr General (Stadtkommandant) würde solchen ohne Erlaubnis der Kriegskanzlei nicht verstatten wollen oder können. Es bleibt also nur der Leinebergische Galgen. Bei diesem ist aber der obenliegende Hängebalken durch die Länge der Zeit faul geworden. Doch will der Gerichtsschulze die Reparatur von sich aus besorgen. Dienstag, den 23. Dezember 1766, am letzten Tage der gesetzten Frist von einer Woche, lange vor Tage, also um fünf Uhr, soll die Execution in der Stille vorgenommen werden. Der Gerichtsschulze wird am Morgen der Execution im Concilienhause durch die Universität requiriert werden, die Execution an dem Bilde zu vollstrecken.
Damit scheint nun alles in Ordnung zu sein. Dennoch setzt die Diskussion von neuem ein, anscheinend auf Betreiben einer überstimmten Minderheit in der Deputation. Man weist darauf hin, daß das Regierungsrescript nicht von einem Galgen rede, sondern von einem Pfahl auf dem Marktplatze, an den das Bild gehängt werden sollte. Das Duell-Edikt rede aber nur von dem Galgen und habe also an nichts anderes denken können als an den Diebes-Galgen, denn für die Studenten sei doch kein besonderer Galgen vorhanden. In Leipzig (der Leipziger Kästner kramt gern Erinnerungen an Leipzig aus) habe man wirklich einmal ein solches Bild an den ordentlichen Galgen gehenkt, der Leipziger Galgen habe aber auch drei Querhölzer, eines für die Universität, eines für das Amt und eines für die Stadt. Kästner schlägt also vor, daß man wegen dieser Zweifel noch einmal bei den Räten in Hannover Rückfrage halte, obwohl die gesetzte Frist von acht Tagen dann nicht innegehalten werden könne. Aber die Mehrheit der Deputation beschließt, daß die Execution ihren Lauf nehmen müsse, wobei das Nähere dem Gerichtsschulzen überlassen bleibe, der ja die ganze Verantwortung habe. Nun scheint also die Bahn völlig geebnet zu sein.
Aber es entsteht eine neue Schwierigkeit. Man fragt: wie wird denn der auf dem Bildnis anzubringende Name des Delinquenten richtig geschrieben, Carmon oder Carmohn? Ayrer behauptet ohne, der Syndicus Riccius mit h. Darüber soll die Matrikel eingesehen werden. Aus ihr ergibt sich überraschenderweise, daß er doch mit einem h geschrieben wird. Und dann taucht ganz neu ein weiteres nicht so einfach zu lösendes Problem auf: Soll das Bildnis mit einer eisernen Kette oder mit einem Strick an den Galgen gehängt werden? Diese Frage ist in der letzten Deputations-Sitzung vergessen worden und wird von dem Syndicus Riccius noch Nachträglich zur Erörterung gestellt. Auch müssen an dem Bilde oben zwei Krampen angebracht werden, durch die die Kette gezogen werden kann. Bei Anwendung eines Stricks sind allerdings keine Krampen nötig, da die Löcher für den Strick leicht gebohrt werden können. Riccius erläutert dieses bisher nicht erkannte Problem durch eine lichtvolle Handzeichnung. Es wird darüber nun im Umlauf votiert. Kästner meint, es sei eine Kette nötig, der Strick verfaule sogleich. Das Eisenwerk könne wohl bei dem Schmiede bestellt werden, ohne daß man sage, wozu. Dem stimmt auch der Theologe Förtsch zu. Aber die Andern meinen, es müsse erst der Scharfrichter befragt werden, wie er es verlange. Diese Eröterungen spielen am 19. Dezember 1766.
Am 20. Dezember kam dann ganz unerwartet in einem neuen Schreiben der Räte aus Hannover die Lösung und Rettung aus aller Verlegenheit. Die Räte schrieben, sie hätten gnädigst resolviert, die erkannte Aufhängung des Bildnisses an den Galgen in eine Relegationem perpetuam cum infamia (mit Vorbehalt der im Betretungsfalle annoch zu vollstreckenden Todesstrafe) (6) zu verwandeln.
Also ein völliger Umschwung der Meinung bei den Räten in Hannover. Aus den Akten sind die Gründe dafür nicht zu ersehen. Wir erfahren sie aber aus einer anderen Quelle: von Joh. David Michaelis in seiner Selbstbiographie. Er erzählt, daß er die Ausführung dieses Hängeaktes in effigie verhindert habe, der gerade an einem Orte stattfinden sollte, „wo der Weg nach einem sehr besuchten Wirtshause vorbeiging und die Besuchenden, vom schlechten Weine berauscht, zurückkamen (Crone?) Die natürlichen Folgen davon würden so übel gewesen sein, daß ich mich für verpflichtet hielt, die Ausführung zu verhindern. Ich stellte dieses also vor, aber nicht Münchhausen (7) selbst, sondern einem meiner Freunde in Hannover, der sein ganzes Vertrauen hatte, um es ihm zu entdecken. Mit der ersten Post wurde sogleich die Vollziehung der Sache durch ein Resript verboten.“ Das erzählt Michaelis hier freilich nicht, daß er an einer möglichst geräuschlosen Erledigung der Sache persönlich interessiert war, weil das unselige Duell in seinem Hause stattgefunden hatte. Trotzdem bleibt ihm der Ruhm, daß er weitblickend, verständig und mutiger als seine Kollegen den abgeschmackten Hängeakt verhindert hat.
Merklich erleichtert beschließt die Deputation sogleich nach Eingang des Schreibens vom 20. Dezember, daß die Strafe des Aufhängens wegfalle. Der Gerichtsschulze wird, um ihm solches mitzuteilen, herbeigerufen. Diese konnte sich dann allerdings nicht Umgang nehmen zu bemerken, daß die Reparatur des Galgens bereits mit einem Kostenaufwand von 40 Talern bewirkt worden sei. Die Deputation konnte ihm erwidern, daß auch sie schon das aufzuhängende Bild auf ein Brett zu beiden Seiten fertig habe malen lassen, bis auf die Unterschrift des Namens Carmohn.
Danach kommt das gerichtliche Verfahren dann bald zu Ende.
Das Duell hatte natürlich großes Aufsehen erregt; durch Jahrzehnte hin blieb die Erinnerung daran wach, zumal es der einzige derartige Fall blieb – bis 1808, dem Jahre, in dem sich die ersten Landsmannschaften neuer Art in Göttingen konstituierten. (In dem dann folgenden Jahrzehnt bis 1818 stieg das Duellwesen auch in Göttingen zu nicht gekannter Höhe. In diesem Zeitraum fallen etwa zehn Studenten-Zweikämpfe mit tödlichem Ausgang. Von 1820 bis 1837 geschah dann wieder nur ein einziger Fall.)
Die Teilnahme der Zeitgenossen an dem Schicksal des toten Techentin fand ihren Ausdruck auch poetisch in einem langen Gedichte, daß als eine Art Fliegendes Blatt gedruckt und vertrieben wurde: An den Vater des jüngst zu Göttingen erstochenen Jünglings, von einem Bürger der Akademie. 1766; 14 S., Kl.-Oktav. (8)
Zwei Aeßerungen von Göttinger Professoren, die sich auf das Duell Techentin-Carmon beziehen, sind noch bemerkenswert. Was Lichtenberg im Jahre 1769, offenbar an den Fall Techentin denkend, in seinem Notizen-Buch über Duell vermerkt, steht sehr weit ab von der studentischen Auffassung, damals und heute, über den Zusammenhang von Ehre und Zweikampf. Es erklärt sich zur Genüge aus der bekannten Körperlichkeit Lichtenbergs, die ihn für eine kämpferische Betätigung ausschließlich auf geistige Waffen verwies. Das er diese vortrefflich zu führen verstand, hat der kleine bucklige Professor in manchen Waffengängen bewiesen, an denen wir noch heute unsere Freude haben. Ueber studentische Duelle schreibt er u.a.: „Ein Göttingisches Duell erfordert die nämliche Herzhafftigkeit, die man nötig hat, um eine bowl of punch auszutrinken. Fünfzig Göttinger Studenten haben ihren Tod schon in der Punsch-bowle gefunden und nur ein einziger im Duelle. Kein Wunder also, wenn so viele das Mittel des Duells ergreifen, eine vermeintlich verlorene Ehre wiederherzustellen. Ein Versuch, die Grönländischen satyrischen Duelle einzuführen, könnte ein gutes Mittel sein, seine Ehre nicht zu bald für verloren zu halten.“ Die Grönländer fechten nämlich nach damaligen Reiseberichten ihre Streitigkeiten dadurch aus, daß sie gegenseitig satirische Gedichte auf einander absingen, wobei der Zuhörerkreis zu entscheiden hat, wer sich für besiegt halten muß. (Hierauf bezieht sich auch der Titel von Jean Pauls Erstlingswerk „Grönländische Prozesse“ von 1783.)
Eine etwas andere, mehr moralisierende, aber ebenso wenig Studentenbrauch-freundliche Note klingt aus den Worten des Professors Pütter, der 1766 an der akademischen Untersuchung gegen Carmon und Genossen beteiligt war; er wurde aber durch den Vorgang so erschüttert, daß er mit einem kalten Fieber befallen wurde. Noch nach dreißig Jahren, in seiner Selbstbiographie von 1798, erzählt er von diesem tödlichen Studentenduell, dem einzigen, das er in den fünfzig Jahren seiner Professur in Göttingen erlebt hatte. Dabei sagt er: „Der Täter soll nicht lange hernach in einer Art von Verzweiflung gestorben sein. Er hieß Carmon. Der Entleibte war aus Lübeck, eines Zuckerbäckers Sohn, namens Techentin. Was mag denen, die an der Sache teilgehabt, seitdem ihr Gewissen vorgehalten haben?“
Eine Frage, die dem Studenten-Historiker von selbst aufdrängt, mag hier noch angeschlossen sein: ob nämlich in diese Studenten-Duell-Geschichte nichts vom studentischen Ordenswesen hineinspielt. Wenn die Gegner der Studenten-Orden, vor allem also die Universitätsbehörden, immer wieder behaupteten, die Orden seien schuld an der Duellwut, so scheint unser Tatbestand das zu bestätigen, sofern man nur annimmt, daß hinter den „Mecklenburgischen Landsleuten“, die den Carmon von Versöhnung abhalten, und dem Commilitonen Kölling, der dem Techentin mit dem vielsagenden Hinweis auf Hallischen Burschenbrauch die Bedenklichkeiten austreibt, - daß hinter diesen Scharfmachern ein Studenten-Orden stand. Das akademische Gericht hat in der Untersuchung gefragt, ob Carmon in einem Orden sei. Die Zeugen wollen davon nichts wissen. Die Frage lag um so näher, als in denselben Wochen, als das Verfahren gegen Carmon lief, die große umfassende Untersuchung gegen die Studenten-Orden spielte, deren Ergebnisse durch G. v. Selle in dem aufschlussreichen Buche von 1927 (Ein akademischer Orden in Göttingen um 1770) dargestellt sind. Danach müssen wir sagen, daß das akademische Gericht, indem es nach der ausweichenden Antwort der Zeugen die Ordensfrage nicht weiter verfolgte, recht leichtgläubig oder wenig scharfsinnig war oder – sein wollte. Aus den bei v. Selle mitgeteilten Untersuchungsergebnissen kann man unschwer die Überzeugung gewinnen, daß das Duell Techentin-Carmon aus dem Schoße des Studenten-Ordens L'Innocence erwachsen ist, dem Carmon vermutlich angehörte. Das Ordenszeichen war L'J, dazu drei Punkte im Dreieck; oder auch th'I, denn der Orden war aus England gekommen. In Göttingen hatte er sein Hauptquartier offenbar im Hause Michaelis. Der Hofrat Michaelis war dabei kein Hindernis; er bekümmerte sich um die Vorgänge im Seitenflügel seines Hauses wenig, vermietete ihn sogar am liebsten stockwerkweise in General-Enterprise an einen Studenten, der dann die einzelnen Zimmer an Untermieter weitergab. Im Hause Michaelis wohnte Baumgarten, in dessen Zimmer das Duell stattfand. In eben diesem Zimmer finden Aufnahmen in den Orden statt: der stud. v. Dewiß ist hier durch den stud. v. Uslar in den L'Innocence-Orden rezipiert worden – er erscheint unter den Zeugen in der Duellsache. Zwei Brüder Helm sind in dem Orden, der eine gehört zu den flüchtigen Mitschuldigen in der Duellsache. Bei der am 11. Juni 1766 allen Ordensbrüdern abgenommenen Absagungs-Erklärung erscheinen vom Orden L'Innocence noch acht Mitglieder. Ich glaube, daß außerdem auch die geflüchteten vier oder fünf Studenten dem Orden angehörten. Die Mitglieder waren meist Mecklenburger; zwei waren Göttinger Honoratioren-Söhne: F. C. Willig, der Sohn des Bürgermeisters, später selbst Göttinger Universitäts-Syndicus, und M. C. Friedrichs, der Sohn des reichen Kriegskommissars. Im Mai 1771 finde ich das Zeichen des Ordens L'Innocence zum letzten Male in einem Stammbuche.
Für das Göttinger Studentenleben scheint das Duell Carmon-Techentin dann noch in besonderer Weise bedeutsam geworden zu sein. Der unglückliche Ausgang hat dazu geführt, daß in Göttingen der Stoßdegen als studentische Waffe abgeschafft und der Hieber an seiner Stelle eingeführt wurde. (9) Professor Meiners, der das Göttinger Studentenleben seit 1767 aus eigener Beobachtung kannte, erzählt 1802, dieser traurige Vorfall sei vermutlich der Hauptgrund gewesen, daß man in Göttingen den Stich-Degen verließ und den Hieber zu brauchen anfing. Fabricius berichtet ähnlich (1927, S. 143), der Korbschläger solle in Göttingen zuerst aufgekommen sein und sich von dort aus verbreitet haben. Schon 1781 jedenfalls war nach den Erinnerungen Piter Poels die unter den Göttinger Studenten gebräuchliche Waffe der Hieber, nicht der Stoßdegen. Nach 1790 läßt man auch an anderen Universitäten gerne „Schläger aus Göttingen“ kommen (Fabricius). So darf man zum Schlusse feststellen, daß dieser unglückliche Göttinger Zweikampf Carmon-Techentin von 1766 in einem Punkte doch Gutes bewirkt hat. Er ist die Veranlassung zu einer Verbesserung des studentischen Duellbrauchs geworden und hat der deutschen Studenten-Welt damit zu einem Fortschritt verholfen, ohne den vielleicht noch mancher fidele Bursch dem Stoß-Comment zum Opfer gefallen wäre.


Anmerkungen:

(1) In Göttingen wurden im 18. Jahrhundert nicht wenige Duelle gefochten (vgl. Stefan Brüdermann: Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert. Band 15 von Göttinger Universitätsschriften. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 1990). Dass es dabei nur einen (belegten) Todesfall gegeben hat, ist in der Tat bemerkenswert.

(2) Johann David Michaelis (1717-1791): Orientalist, Theologe und Historiker. Ab 1746 außerordentlicher und ab 1750 ordentlicher Professor in Göttingen. 1764 erwarb Michaelis das Haus, dass auf der Allee direkt gegenüber dem Universitäts- und Kollegiengebäude stand und bis heute den Namen Michaelishaus trägt. Vgl. Allgemeine Deutsche Biographie (Band 21, Duncker & Humblot, 1885, S. 685–690. Julius August Wagenmann) und Neue Deutsche Biographie (Band 17, Duncker & Humblot,  1994, S. 427–429. Von Christoph Bultmann)

(3) Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799): Naturforscher und Schriftsteller. Vgl. Neue Deutsche Biographie, Band 14, S. 449-464. Von Wolfgang Proß und Claus Priesner)

(4) In effigie (lat.): als Bildnis. Eine Strafvollstreckung am Bild war allgemeingebräuchliche Rechtspraxis jener Zeit. Hier: Weil der Täter Carmon flüchtig war, wurde das Urteil als Scheinhinrichtung an dessen Bildnis vollstreckt. Siehe zur Geschichte der Scheinhinrichtungen in Europa diesen Artikel.

(5)  Edictal-Citation: Der Beschuldigte wird durch öffentliche Bekanntmachungen (Ausrufungen oder Anschläge) aufgefordert („citirt“), zu einem festgesetzten Tag vor Gericht zu erscheinen. Vgl. Pierer's Universal-Lexikon, Band 5. Altenburg 1858, S. 477.

(6)  Relegationem perpetuam cum infamia: Die dauerhafte Verbannung („relegationem perpetuam“) wegen einer entehrenden Handlung („cum infamia“). Hier: wegen des Duells. Vgl. Pierer's Universal-Lexikon, Band 14. Altenburg 1862, S. 30-31.

(7) Gerlach Adolph von Münchhausen (1688-1770): Kurfürstlicher Rat. Mitbegründer und erster Kurator der Georg-August-Universität Göttingen. Vgl. Allgemeine Deutsche Biographie (Band 22, Duncker & Humblot, 1885, S. 729–745.  Von Ferdinand Frensdorff)

(8) „An den Vater des jüngst zu Göttingen erstochenen Jünglings, von einem Bürger der Academie, 1766“ (Anonym). [Digitalsat der Staatbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz]

(9) Auch an anderen Universitäten und bereits zu früheren Zeiten wurden Verbote des Duell-Stoßfechtens und des Tragens von Stoßdegen ausgesprochen, z.B. in Marburg die Verbote von 1659, 1670, 1676, 1695.  Auch im 18. Jahrhundert wurden dort immer wieder strenge Edikte für das Tragen und Führen von Waffen erlassen ( vgl. „Zur Geschichte des Fechtens an der Universität Marburg. Von Norbert Nail und Gereon Berschin“ [pdf]) Ein Beispiel für Verstöße gegen geltendes Universitätsgesetz: Nach dem Verbot von 1695 an der Universität Marburg „sollte die Übertretung des Verbots mit 2 Goldgulden und Verlust des Degens bestraft werden, wer aber damit stößt, soll mit 8 Tage Karzer und 10 Rthlr. Strafe büßen, wer einen andern durch den Stoß damit verwundet, soll relegiert oder excludiert werden.“ (ebd. S. 4, zit. n. G. Heer, 1927: 59)