Montag, 6. Juli 2015

"Die Fechtkunst in der alten sächsischen Armee" - Über das Bajonettfechten (und Florettfechten) im 19. Jahrhundert im Königreich Sachsen

"Die Fechtkunst in der alten sächsischen Armee" ist ein Artikel von E. Schurig, den dieser 1895 in der Militärzeitschrift "Der Kamerad" veröffentlichte (33, 27, S. 4f).

Der Text (1)

[Seite 4] Die Fechtkunst in der alten sächsischen Armee
Eine historische Skizze von E. Schurig.

Als diejenigen königlich sächsischen Truppenteile, welche dem zur Okkupation in Flandern 1815 befehligten III. deutschen Armeekorps angehörten, nach der auf dem Wiener Kongreß im genannten Jahre entschiedenen Teilung ihres Vaterlandes in die sächsische Heimat zurückkehrten, brachten sie einen neuen Dienstzweig mit, dessen Einführung sich bald darnach auf die gesamte sächsische Armee erstreckte, und der in dieser während der nachfolgenden 50 Jahre zu hoher Blüte gelangte: das Bajonettfechten. Der spätere Kapitän (Hauptmann) v. Selmnitz im damaligen 2. leichten Infanterieregiment, schon vorher ein eifriger Freund der ritterlichen Fechtkunst „auf Hieb und Stoß“, lernte während seines Aufenthalts in Frankreich das besonders in der Bretagne und in der Normandie übliche Fchten mit bâton und fléau eingehend kennen. Er zog aus diesen Fechtarten schätzbare Nutzanwendungen für die Stöße und Deckungen beim Fechtgebrauch des Gewehres, schuf ein eignes neues, vereinfachtes System und begann nach diesem, zunächst in seiner eignen Kompanie, Stoßfechter auszubilden, deren Geschicklichkeit und Gewandtheit selbst den Beifall der französischen Fechtmeister fand. In der heimatlichen Garnison wurden diese Uebungen eifrigst weiter betrieben, und als Hauptmann v. Selmnitz Gelegenheit fand, im Jahre 1820 zu Dresden dem kommandierenden Generallieutnant Edlen v. Lecoq seine Schüler und ihre Fechtkunst in mehreren „Assauts“ vorzuführen, da erweckten diese des Generals ungeteilte Anerkennung. Die nächste Folge war, daß das Generalkommando 1822 gleichzeitig mit dem Exerzierreglement eine von Selmnitz verfaßte „Bajonettfechtlehre“ nebst „Fechtregeln“ erscheinen ließ und hiermit das Bajonettfechten zunächst für die leichte und von 1823 für die gesamte Infanterie zum förmlichen Dienstzweig erhob. Fortan wurde diese Kunst jahrzehntelang hindurch in der königlich sächsischen Armee mit einem Eifer gepflegt, der heute nur dem bezüglich der Schießausbildung entwickelten gleichkommt. Es mag darum nicht als außergeöhnlich erscheinen, wenn der damalige Major, spätere Generallieutnant v. Cerrini den Ertrag seines 1821 erschienenen Werkes: „Die Feldzüge der Sachsen 1812 und 13“ in Höhe von 9000 Thalern dem Besten der Fechtausbildung widmete. Erst Vorfechter, dann Fechtmeister zu werden, galt Offizieren und Unteroffizieren als ein erstrebenswertes Ziel, und der besitz eines Vorfechter= und Fechtmeisterpatentes stand den Betreffenden genau so hoch, wie gegenwärtig der Besitz der Schießauszeichnungen. Die Patente, von sämtlichen Fechtmeistern des Bataillons unterzeichnet und dem Jnhaber nach bestandener Prüfung feierlich überreicht, enthielten im Vordruck u.a. folgende bezeichnende Sinnsprüche:

„Unerschütterlicher Mut, feste Standhaftigkeit, weiße Mäßigung und kaltblütige Besonneheit sollen Dir helige Pflichten sein.“

Ferner:

„Der Verteidigung des Königs und Vaterlandes, Deines Standes und der eignen Ehre weihe die ritterliche Kunst, Dein Blut und Leben.“

Schon die Rekruten wurden während ihrer ersten Ausbildungszeit im Bajonettfechten fast mehr wie im Schießen geübt; die Unteroffiziere wurden außerdem im Florettfechten ausgebildet, jeder Offizier hatte am Fechtunterricht lernend oder lehrend teilzunehmen; desgleichen war auch das Rapierfechten und Offiziers- und Unteroffizierskreisen nebenbei gang und göbe.

Die Fechtprüfungen bei den Kompanien und Bataillonen waren dienstliche Akte etwa von der Bedeutung des heutigen Prüfungsschießens; die höchsten Offiziere nahmen, mit lebendigem Interesse zuschauend, daran teil, auch der König und die Prinzen erschienen nicht selten. Es wurden hierzu 6 Stück blinde Patronen an jeden Mann ausgegeben, förmliche Gefechtsbilder gelangten zur Darstellung und in den Pausen spielten Musikkorps.

Bei der leichten Infanterie - den heutigen Schützen und Jägern - wurde das Fechten am thätigsten betrieben. Als diese Truppen in den Jahren 1824-25 und 1829-30 in Dresden garnisonierte, trafen dort wiederholt Offiziere fremder Armeen ein, um das sächsische (Selmnitz'sche) System des Bajonettfechtens zu studieren und dann auf ihre Kontingente zu übertragen. Auch später noch blieb die berühmt gewordene sächsische Fechtkunst vorbildlich. Hatte bereits am 30. September 1824 die Dresdner Garnison die Ehre gehabt, sich vor dem russischen Großfürsten Constantin im Gewehrfechten zu zeigen, so war es den Unteroffizieren der Leibbrigade in den 40er Jahren einmal vergönnt, dem russischen General v. Tschernitscheff ein gleiches Schauspiel vorzuführen. Der General war von dem Gesehenen dermaßen entzückt, daß er den betiligten Unteroffizieren das eigenartige, aber durch die damalige Sonderart der Bekleidungswirtschaft in der sächsischen Armee erklärliche Geschenk von 100 Paar Tuchhosen und 200 Paar Stiefelsohlen reichen ließ. Die sächsischen Unteroffiziere dieser Zeit waren als Fechtlehrer an Schulen, Instituten und in den vornehmen Familien sehr begehrt; selbst fremde Armeen bewarben sich um sächsische Fechtmeister. So wurde im Februar 1826 der Oberjäger Köhler vom 3. Schützenbatallion auf Antrag des braunschweigischen Truppenkontingents dahin entsendet, um Anleitung im Gewehrfechten zu geben, und er entledigte sich seines Auftrages derart geschickt und erfolgreich, daß er mit Genehmigung seines Kriegs= und Landesherren in braunschweigische Dienste übertrat. Neben dem Hauptmann v. Selmnitz machten sich als Fechtmeister und =Lehrer weit über Sachsens Grenzen hinaus besonders noch Adolf Werner und der Hauptmann Pönitz bekannt. Selmnitz gab 1825 ein treffliches Lehrbuch der „Bajonettfechtkunst“ heraus, welches in ganz Deutschland, in Dänemark, Oestreich und Rußland Verbreitung fand; der König von Preußen bestellte für sich 6, der Großfürst Constantin von Rußland 25 Exemplare. Werner lehrte zusammen mit Selmnitz am Dresdner Kadettenhaus die Fechtkunst, dann ging er zu gleicher Thätigkeit an die Universität Leipzig, im später vom Herzog von Anhalt als Professor und Direkter der neu gegründeten gymnastischen Akademie nach Dessau berufen zu werden. Er gab 1824 eine „Theoretische Anweisung zur Fechtkunst im Hiebe“ heraus und war einer der ersten, der in Dresden die Turnkunst übte und lehrte, welche 1837 bei der sächsischen Armee als Dienstgegenstand eingeführt wurde. Hauptmann Pönitz, ehemals Unterwachtmeister im sächsischen Husaren=Regiment und als Militärschriftsteller und =Pädagog berühmt geworden, wirkte gleichfalls am Kadettenhaus zu Dresden als Fechtlehrer nach dem Selmnitz'schen System; er gab 1822 ebenfalls eine Schrift: „Die Fechtkunst auf den Stoß“ heraus.

Die ursächliche Bedeutung des Bajonettfechtens, wie es damals in der sächsischen Armee betrieben wurde, lag in der dominierenden Stellung der Reiterei gegenüber der Infanterie und in der Unvollkommenheit der Schußwaffe. Es galt damals noch die Meinung des Marschalsl Moritz von Sachsen, der in seinen „Ideen“ über die Bewaffung des Fußvolkes“ sagte: „Unser Schießen ist überhaupt so fürchterlich nicht, als man denkt. Wenig Soldaten bleiben in Treffen und Scharmützeln durch das kleine Gewehr, wenn beide Theile aufeinander nach der gewöhnlichen Art schießen. Ich habe gesehen, daß ganze Lagen nicht einen Mann getötet haben, habe aber noch nicht wahrgenommen, daß durch das kleine Gewehrfeuer ein solcher Schade wäre angerichtet worden, welcher verhindert hätte, weiter vorwärts zu gehen, dem Feinde die Bajonette in die Rippen zu stoßen und dann erst zu schießen, wenn er die Flucht ergriffen hat, in welchem Falle es allein von guter Wirkung ist. Man bedient sich heutzutage so wenig des Bajonetts, daß man dafür halten sollte, als wenn dieses Gewehr erfunden wäre, um nur von weitem einen Schreck einzujagen.“ Als dann die Theorie des Bajonettfechtens sich Bahn gebrochen und in Sachsen unter Benutzung der Grundsätze der französischen, italienischen und früheren deutschen Lehrart in vereinfachter Weise praktisch zur Einführung kam, da lehrte der Vater dieses neuen Systems, Hauptmann v. Selmnitz: „Man ist jetzt mehr als je von der Ueberzeugung durchdrungen, daß die Infanterie nur dann ihrer Bestimmung entspreche, wenn sie im Handgemenge sowohl, als auch im geschlossenen Haufen, Mann gegen Mann, zu kämpfen wisse, und im Gebrauch der Stoßwaffe mit eben der Sorgfalt, wie im Schießen geübt sei. Das

[Seite 5] Bajonett ist oft das letzte Mittel der Notwehr, von dessen geschickter Führung Ehre und Leben abhängen. Es erfordert also die Ehre des Ganzen, den Krieger mit der Gesamtkraft seiner Waffe vertraut zu machen und diese Ausbildung als einen besonderen Zweig der Taktik zu betreiben. Das Gewehr ist die Hauptwaffe der Infanterie und muß in der angemessenen Ferne ebenso zuverlässig als im dichtesten Handgemenge wirken können. Der Infanterist, der isch nur solange zu behaupten weiß, als er einen Schuß anzubringen vermag, wird seinen Beruf nur halb erfüllen. Anhaltender Regen, verdorbene Munition, angestrengtes Laufen und andere widrige Umstände können der Feuerwaffe Eintrag thun, während der auf Bajonett und Kolben wohl abgerichtete Infanterist noch immer vermögend sein wird, der drohenden Gefahr die Stirn zu bieten und im Fall der Notwehr sich selbst gegen zwei Kavalleristen mit Erfolg zu verteidigen.“

In der That fanden bei der sächsischen Infanterie Uebungen mit der Reiterei auf Säbel und Lanze statt, welche bei den jährlichen Zusammenziehungen von größeren Abteilungen praktisch ausgeführt wurden. Eine Vorführung der „Bajonettfechtschule“ war der unvermeidliche Abschluß der Kantonnements=Uebungen vor dem König oder dem kommandierenden General. Der methodische Unterricht bei den Kompanien zerfiel in sieben Abschnitte: 1. Schule ohne Gewehr, 2. Uebungen mit dem Fechtstocke, 3. Schule mit Gewehr, 4. das Stoßen nach dem Balle, 5. die Lehre des Kontrafechtens, 6. praktisches Verhalten des einzelnen Infanteristen gegen den einzelnen Reiter und 7. allgemeines Verfahren in der Plänkerlinie sowohl als in geschlossenen Trupps gegen die Angriffe der Reiterei. Den Unterricht bei der Kompanie sollten mindestens zwei Lehrmeister und vier Vorfechter leiten, die Mannschaft war in drei Fechtklassen eingeteilt. Des Befähigungsnachweises höchster Ausdruck für den Fechtmeister lag in der Fertigkeit: selbst nach erfolgtem Schuß sich gegen zwei mit dem Säbel bewaffnete Kavalleristen in Vorteil zu setzen.

Es mag nich erwähnt sein, daß sich nach dem vielgenannten Hauptmann v. Selmnitz besonders noch der Oberstlieutenant Schubauer (gestorben 1852) hervorragende Verdienste um die Ausbildung der sächsischen Truppen im Bajonettfechten erwarb; er bearbeitete u.a. ein neues Fecht=Reglement, welches 1844 erschien.

Diese vorzügliche Pflege der Fechtkunst in der sächsischen Armee trug nicht wenig dazu bei, der äußeren Haltung des sächsischen Soldaten eine sichere, gewandte Eleganz zu geben, auch das Vertrauen in die eigene physische Kraft hob sie ganz wesentlich, und der erste Feldzug nach langer Friedenszeit - in Schleswig=Holstein 1849 - legte dafür treffliches Zeugnis ab. Denn damals galt noch Suwarows bekanntes Wort: „Die Kugel ist eine Thörin, das Bajonett ein schneidiger Bursche!“ und darum schrieb der sächsische Oberlieutenant v. Süßmilch genannt Hörnig als Augenzeuge der Kämpfe um Düppel (13. April 1849): „Die Soldaten gingen dem Feinde am liebsten mit dem Bajonett entgegen, da sie diesem mehr zutauten als dem Schuß!“

Nach der Reorganisation der sächsischen Armee nach preußischem Muster im Jahr 1867, und besonders infolge der gewaltig fortschreitenden Verbesserung der Feuerwaffen, trat die dominierende Bedeutung und Anwendung der Hieb= und Stoßtaktik mehr und mehr in den Hintergrund; heute hat das bei der Infanterie noch betriebene Gewehrfechten nur einen nebensächlichen gymnastischen Zweck, die Schießausbildung des Mannes in Theorie und Praxis steht gegenwärtig mit zwingender und überzeugter Berechtigung obenan im Dienstleben des heutigen Soldaten, in ihr liegt sein Heil und der Endzweck seines Berufes: zu kämpfen und zu siegen mit Gott für König und Vaterland, für Kaiser und Reich!

Eine letzte glänzende Erinnerung an die im Schwinden begriffene ritterliche Fechtkunst war wohl die prächtig gelungene Fechtproduktion im Sommertheater des Königlichen Großen Gartens zu Dresden am 29. April 1870 vor einer illustren Zuschauergesellschaft anläßlich des 200jährigen Jubiläums der beiden Grenadier=Regimenter Nr. 100 und 101, ausgeführt nach rauschenden Musikklängen von 16 Unteroffizieren dieser Regimenter.

Anmerkungen

(1) Vielen Dank an dieser Stelle an Frau Dr. Gabriele Bosch und die Bibliothek des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr für die Bereitstellung des originalen Artikels, auf dem diese Transkription basiert.