Montag, 19. Mai 2014

Der Philosoph John Locke über das Fechten und Voltigiren

von Jan Schäfer

Der einflussreiche englische Philosoph und Liberalismustheoretiker John Locke (1632-1704; Leben und Werk in der Stanford Encyclopedia of Philosophie) veröffentlichte neben seinen Texten zu Mensch, Staat, Freiheit und Eigentum auch ein Werk über die Erziehung: Some Thoughts Concerning Education (1693). Darin beschreibt Locke in zwei Paragraphen die Rolle der Leibesübungen des Fechtens und Voltigierens für die körperliche und geistige Entwicklung von Kindern und Heranwachsenden.

"198 §. Fechten und Voltigiren, oder sich auf das Pferd schwingen, werden für so nothwendige Stücke einer guten Erziehung angesehen, daß man es für eine grosse Unterlassungssünde ansehen würde, wenn ich nichts davon sagete. Das letzte von diesen beyden Stücken, welches meistentheils nur in großen Städten gelernet wird, ist eine von den besten Übungen zur Gesundheit, die man an diesen Orten des Wohllebens und der Schwelgerey haben kann. Dieserwegen machet es denn füglich einen Theil der Verrichtungen eines jungen Edelmannes bey seinem Aufenthalte daselbst aus. In so weit es auch etwas beyträgt, daß ein Mensch fest und gut zu Pferde sitzt, und ihn geschickt machet, sein Pferd hurtig still zu halten und sich wenden zu lehren, und dabey steif im Sattel sitzen zu bleiben, ist es einem Edelmanne beydes im Frieden und Kriege nützlich. Ob es aber von genugsamer Wichtigkeit sey, daß man ein ordentliches Geschäfft daraus mache, und ob es verdiene, daß es mehr von seiner zeit hinnehme, als bloß zu seiner Gesundheit dann und wann auf eine solche heftige Leiebsübung sollte gewandt werden, das will ich der Klugheit der Aeltern und Hofmeister überlassen. Sie werden aber wohl tun, wenn sie sich bey allen Stücken der Erziehung erinnern, daß die meiste Zeit und der meiste Fleiß auf dasjenige müssen gewendet werden, was in dem ordentlichen Laufe und den Vorfällen derjenigen Lebensart, wozu der junge Mensch bestimmt seyn und am meisten gebrauchet wird,

199 §. Was das Fechten anbetrifft, so scheint es mir eine gute Übung zur Gesundheit, für das Leben aber gefährlich zu seyn. Denn das Vertrauen auf ihre Geschicklichkeit ist vermögend, diejenigen in Schlägereyen zu verwickeln, welche denken, sie haben ihren Degen zu brauchen gelernet. Diese Einbildung machet, daß sie sich oft mehr an ihren Ehren angegriffen halten, als es nöthig ist, wenn sie entweder nur schlecht oder gar nicht gereizet werden. Junge Leute denken, bey der Hitze ihres Blutes, sehr leicht, sie hätten nur vergebens fechten gelernet, wenn sie niemals ihre Geschicklichkeit und ihren Muth in einem Zweykampfe zeigeten; und sie scheinen Ursache zu haben. Allein, zu wie vielen betrüblichen Trauerspielen diese Ursache Anlass gewesen, können die Thränen vieler Mütter bezeugen. Ein Mensch, der nicht fechten kann, wird sich sorgfältiger vor den Gesellschaften der Raufer und Spieler in Acht nehmen, und nicht halb so geneigt seyn, eine jede Kleinigkeit hoch aufzunehmen, noch andern Beleidigungen anzuthun, oder sie trotzig zu rechtfertigen, wenn sie geschehen sind, woraus gemeiniglich die Schlägerey zu entstehen pflegt. Und wenn ein Mensch auf dem Kampfplatze ist: so stellet ihn eine mäßige Geschicklichkeit im Fechten dem Degen seines Feindes viel mehr bloß, als daß sie ihn davor sichert. Gewiß, ein herzhafter Mensch, der ganz und gar nicht fechten kann, und daher alles auf einen Stoß ankommen lassen und nicht da stehen und lange auspariren will, hat vor einem mittelmäßigen Fechter den Vortheil, vornehmlich wenn er eine Geschicklichkeit im Ringen hat. Wenn daher wider solche Zufälle einige Vorsorge zu tragen ist, und ein Mann seinen Sohn zum Zweykampfe vorbereiten muß: so wollte ich lieber, daß meiner ein guter Ringer, als ein ordentlicher Fechter, seyn sollte; denn das ist das Höchste, wozu es ein Mensch aus gutem Hause bringen kann, wofern er nicht beständig auf dem Fechtboden liegen und sich alle Tage üben will. Weil aber Fechten und Voltigiren durchgängig für so nothwendige Eigenschaften bey der Erziehung eines Menschen aus gutem Haus gehalten werden: so wird es hart seyn, wenn man einem solchen jungen Menschen diese Merkmale des Vorzuges gänzlich versagen will. Ich werde es daher einem vater überlassen, zu erwägen, wie weit die Gemüthsart seones Sohnes, oder der Posten, worein er wahrscheinlicher Weise kommen wird, ihm verstatten oder ihn antreiben kann, sich nach der Mode zu bequemen, welche mit dem bürgerlichen Leben wenig zu thun hat, daher auch vormals bey den allerkriegerischsten Völkern unbekannt gewesen, und denjenigen, die sie angenommen haben, wenig Stärke oder muth mehr gegeben zu haben scheint: es wäre denn, daß wir denken wollten, die kriegerische Geschicklichkeit und Tapferkeit wären durch den Zweykampf vermehret worden, mit welchem das Fechten in die Welt gekommen ist, und mit dem es auch, wie ich vermuthe, wieder hinausgehen wird."

Aus: Herrn Johann Lockens Gedancken von Erziehung der Kinder, von neuem aus dem Englischen übersetzet, gegen des Herrn Costens französische Übersetzung nach der neuesten pariser Ausgabe von 1747, verglichen, und mit dessen Anmerkungen begleitet. Leipzig, verlegts Johann Paul Krauß, Buchhandlung in Wien, 1761.

Die erste deutsche Übersetzung des Werkes erschien im Jahr 1708 durch Sebastian Gottfried Starck unter dem Titel “Des Herrn John Locke Gedancken von Erziehung junger Edelleute / Aus dem Englischen, und zwar der vollständigsten Edition übersetzt, und mit Anmerckungen, zugleich auch durchaus mit Titulen derer Materien versehen” bei Johann Wolfgang Fickweiler in Greiffswald. Es folgten mehrere weitere Übersetzungen.

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